05.11.2012 schoof@detail.de

Abtauchen in die Pixelwelt: Der russische Biennale-Pavillon

In vielen Länderpavillons ist bei der Architekturbiennale 2012 das große Leerräumen angesagt. Neben Deutschland setzen auch Österreich, die Schweiz, Polen und Serbien in ihren Beiträgen auf überaus sparsame Inszenierungen. Auf die Spitze getrieben wird das Prinzip jedoch in dem von Sergei Tchoban kuratierten russischen Pavillon.

Jakob Schoof

Von außen wirkt der russische Biennale-Pavillon in Venedig wie aus der Zeit gefallen. Errichtet am Vorabend des Ersten Weltkriegs durch Alexej Schtschussew – er sollte Jahre später das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau entwerfen – grüßt aus jedem Detail dieses Bauwerks das späte Zarenreich herüber.  Ganz im Gegensatz hierzu der diesjährige russische Beitrag, den der Berliner Architekt Sergej Tchoban kuratiert und gemeinsam mit dem Büro SPEECH (Sergey Kuznetsov, Marina Kuznetskaya, Agniya Sterligova) gestaltet hat. Er ist mit Sicherheit der radikalste der diesjährigen Architekturbiennale und wurde von der Jury des „Goldenen Löwen“ nicht umsonst mit einer Lobenden Erwähnung bedacht.  Die Ausstellung thematisiert die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Städtebau in Russland gestern und heute. Dabei nutzten die Kuratoren den eher dysfunktionalen, zweigeschossigen Aufbau des Pavillons (ein Alleinstellungsmerkmal unter den Biennale-Pavillons) für eine Aufgliederung in Rückblick und Vorausschau.  Im abgedunkelten Sockelgeschoss werden in hinterleuchteten Gucklöchern in den schwarzlackierten Sperrholzwänden historische Fotografien aus den rund 60 Wissenschaftsstädten aus der Sowjetzeit gezeigt. Diese „gated communities“ für Forscher waren streng geheim und auf keiner Landkarte verzeichnet - und beherbergten Wissenschaftsinstitute aus allen erdenklichen Richtungen von der Kernforschung bis zur Astrophysik. 

Jakob Schoof

In Obergeschoss verbannte das Kuratorenteam hingegen gleich alle Ausstellungsinhalte aus dem Raum. Am Eingang erhält jeder Besucher einen Tablet-Computer – und damit gleichsam seine Eintrittskarte nach Skolkovo, eine neue Wissenschaftsstadt, die in den kommenden Jahren bei Moskau entstehen soll. Rund 20.000 Menschen – Forscher und Mitarbeiter von Technologieunternehmen – sollen hier einmal leben; viele von ihnen nur befristet.  Zu sehen bekommt Skolkovo indessen nur, wer per iPad die hinterleuchteten QR-Codes abfotografiert, mit denen Wände und Decken der drei Haupträume über und über bedeckt sind. Wer dies nicht tut (oder keinen Tablet-Computer abbekommen hat), taucht lediglich ein in eine atmosphärische, pulsierende Pixelwelt, die anmutet wie eine raumgewordene frühe Vision des Cyberspace.  Skolkovo, eine Wissenschaftsstadt für 20.000 Einwohner Namhafte internationale Architekten haben an den Entwürfen für Skolkovo mitgewirkt: Der Masterplan stammt von dem französischen Büro AREP unter Leitung von Jean-Marie Duthilleul und Etienne Tricaud. Das Planungsbüro, eine Tochtergesellschaft der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, machte bislang eher mit Bahnhofsbauten von Straßburg bis Shanghai auf sich aufmerksam. In der Endphase des Planungswettbewerbs um Skolkovo konnte es aber immerhin OMA aus Rotterdam aus dem Feld schlagen.

Vogelflugperspektive von Skolkovo

Ganz leer ging Rem Koolhaas dennoch nicht aus: Mitten im Zentrum von Skolkovo darf sein Partner Reinier de Graaf „The Cube“ planen, ein Multifunktionsgebäude, das ein wenig an eine vergrößerte, um 45 Grad gekippte Version der niederländischen Botschaft in Berlin erinnert. Schräg gegenüber auf dem überdimensioniert wirkenden zentralen Platz haben SANAA eine Kuppel à la Buckminster Fuller entworfen, die kulturelle Funktionen enthalten soll. Bodenständiger muten die Wohnviertel von Skolkovo an: In kreisrunden Großparzellen organisiert, wurden von internationalen Architekturstars wie Pierre de Meuron, David Chipperfield, Stefano Boeri und Kurator Sergei Tchoban „kuratiert“. Das heißt konkret: 30% der Flächen beplanen die Kuratoren selbst, doch immerhin 70% werden im Rahmen von Wettbewerben an einheimische Architekten vergeben. Die Resultate, die auf den Touchpanels zu sehen sind, machen immerhin Laune, Skolkovo dereinst in der Realität vor sich zu sehen.

Wohnquartier in Skolkovo

Die Zukunft der Architekturausstellung – oder ihr Abgesang?  Kaum 15 Jahre ist es her, da prophezeiten manche Vordenker des World Wide Web noch das Ende des realen Raums: Wenn der Mensch erst einmal in virtuellen Räumen kommunizieren, handeln, ja wohnen und arbeiten werde, würden Gebäude nur noch als Portale oder „Interface“ (ein Lieblingswort jener Zeit) in den Cyberspace dienen. Manches davon ist eingetreten, vieles nicht. Wir kaufen und verkaufen heute zwar mehr denn je im Internet und pflegen unsere Facebook-Existenzen. Im Gegenzug jedoch war zuletzt eher eine vehemente Rematerialisierung von Raum und Architektur zu beobachten. Offenbar kann der Mensch vom Materiellen (und Atmosphärischen) doch nicht lassen. Zum Glück, ist man geneigt zu sagen. Nun aber führen Tchoban und SPEECH derlei Überlegungen geradewegs ad absurdum. Ihre Installation ist exakt das gebaute Abbild jener frühen Cyberspace-Prognosen: der Raum als Interface, wenn auch als eines mit Atmosphäre und Aufenthaltswert. Das wirkt in diesem Fall sogar schlüssig, weil Ausstellungsräume immer Interfaces sind – Mittler zwischen Betrachter und präsentiertem Objekt. Doch durch den kompletten Verzicht auf materielle Architektur-Repräsentanten (Modelle, Fotos, Texte) wirft diese Installation zugleich die Frage nach Sinn und Zukunft von Architektur-Biennalen auf: Wozu nach Venedig fahren, wenn ich die dort vermittelten Informationen ebenso vom Sofa aus konsumieren könnte?

Jakob Schoof

Den entscheidenden Unterschied bildet der Raum, in dem die Informationsvermittlung stattfindet. Nichts gegen des Lesers Sofaecke – aber der russische Pavillon ist auch ganz ohne i-Pad sehenswert. Das Fazit daraus: Je mehr sich Architekturausstellungen künftig dematerialisieren, desto entscheidender wird die Gestaltung der Orte, an denen sie stattfinden. Das sind schlechte Nachrichten für Druckereien und Modellbauer, aber umso bessere für Architekten, die Ausstellungen gestalten – und letztlich auch eine Entwarnung für die Organisatoren der Architekturbiennale.
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