07.07.2014 Bettina Sigmund

Biologische Strukturprinzipien: Forschungspavillon aus Carbonfasern

Futuristisch und avantgardistisch – eine Mischung aus Spinnennetz und Kokon: Diese und ähnliche Assoziationen weckt der neue Versuchspavillon des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) und des Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart. Nach dem Vorbild der Deckflügelschalen von Käfern entwickelt, wirkt der robotisch gewickelte Pavillon aus Faserverbundstrukturen beinahe selbst wie ein Insektenpanzer. Dahinter steckt ein interdisziplinäres Forschungsprojekt aus wissenschaftlichen Mitarbeitern und Studierenden der Disziplinen Biologie, Paläontologie, Architektur und Ingenieurwesen.

Bilder alle: ICD/ITKE University of Stuttgart

Im Mittelpunkt des Projekts stand die Auseinandersetzung mit robotischen Fertigungsverfahren für Faserverbundwerkstoffe einerseits und biologischer Konstruktionsprinzipien natürlicher Faserstrukturen andererseits. Dafür wurden zunächst in Kooperation mit dem Institut für Evolution und Ökologie sowie dem Forschungsbereich Paläobiologie der Universität Tübingen die Konstruktionsprinzipien natürlicher Leichtbaustrukturen untersucht und abstrahiert. Ziel war die Entwicklung eines robotischen Fertigungsverfahrens für modulare, doppelschalige und damit statisch sehr leistungsfähige Faserverbundstrukturen.

Biologisches Vorbild
Ungewohnt organisch erscheinen die gewickelten Module aus glas- und carbonfaserverstärktem Epoxidharz. Um ein geeignetes Vorbild für die materialeffiziente Bauweise zu finden, arbeiteten die Architekten und Ingenieure der Universität Stuttgart interdisziplinär mit Biologen der Universität Tübingen im Modul „Bionik von Tierkonstruktionen“, geleitet durch Prof. Oliver Betz (Biologie) und Prof. James H. Nebelsick (Geowissenschaften), zusammengearbeitet. Sie wurden fündig: Die Deckflügelschalen, sogenannte Elytren, flugfähiger Käfer zeigten sich als Muster geeignet. Die Elytren sind zum Schutz des Käferhinterleibes besonders tragfähig, aber gleichzeitig zur Erhaltung der Flugfähigkeit extrem material- und gewichtssparend ausgebildet. In Kooperation mit der Synchrotronstrahlungsquelle ANKA des Instituts für Photonenforschung und Synchrotronstrahlung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) konnten mittels Mikro-Computertomographie hochaufgelöste dreidimensionale Modelle dieser Käferelytren erstellt werden. Zusammen mit REM Aufnahmen der Universität Tübingen konnten so die feinen Innenstrukturen der Käferschalen untersucht werden.

Die Morphologie der Elytren beruht auf einem doppelschaligen Aufbau, dessen Ober- und Unterschale durch säulenartige Stützelemente mit doppeltgekrümmter Geometrie, den so genannten Trabekeln, verbunden sind. Innerhalb der Trabekel gehen die Fasern der inneren und äußeren Schale kontinuierlich ineinander über. Die Anordnung und geometrische Ausformung der Trabekel variiert hierbei stark innerhalb der Käferschale. Die vergleichende Betrachtung mehrerer flugfähiger Käferarten ermöglichte es, grundlegende Strukturprinzipien zu identifizieren und ein abstrahiertes strukturmorphologisches Entwurfsregelwerk zu entwickeln. Dieses wurde in computerbasierte Entwurfs- und Simulationsprozesse übersetzt, die sowohl die Eigenheiten der robotischen Herstellungstechnik als auch die abstrahierten biologischen Konstruktionsprinzipien von Anfang an in den Planungsprozess integrieren. Zur technischen Umsetzung zeigte sich ein Faserverbundmaterial aus glas- und carbonfaserverstärktem Epoxidharz geeignet.

Projektteam
Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) - Prof. Achim Menges
Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) - Prof. Dr.-Ing. Jan Knippers  Wissenschaftliche Entwicklung und Projektleitung:
Moritz Dörstelmann, Vassilios Kirtzakis, Stefana Parascho, Marshall Prado, Tobias Schwinn Konzeptentwicklung: Leyla Yunis Weitere ausführliche Informationen zu dem Team und den Projektpartnern sowie einen Film zum Fertigungsprozess finden Sie hier
Robotischer Faserwickelprozess
Im Rahmen dieses Projektes wurde ein kernloser robotischer Wickelprozess entwickelt, bei dem in Harz getränkte Glas- und Carbonfasern auf von zwei 6-Achs Industrierobotern geführte Rahmen (Effektoren) gewickelt werden. Diese dünnen Rahmen definieren die Bauteilkanten, während die Bauteilgeometrie aus den frei in der Luft gespannten Fasern entsteht. Dabei ist die Reihenfolge, in welcher die harzgetränkten Faserbündel (Rovings) auf die Effektoren aufgewickelt werden, maßgeblich und wird durch eine Wickelsyntax beschrieben. Die Effektoren können an unterschiedliche Bauteilgeometrien angepasst werden, wodurch alle 36 unterschiedlichen Module mit denselben Roboterwerkzeugen gefertigt werden konnten.

Dieses kernlose Wickelverfahren ermöglicht nicht nur eine erhebliche Materialersparnis beim Formenbau, sondern stellt an sich ein sehr materialeffizientes und ressourcenschonendes Herstellungsverfahren dar, da während des Prozesses kein Abfall oder Verschnitt anfällt. Im eigentlichen Herstellungsprozess wird zunächst eine Lage Glasfaser gewickelt, die dann als integrierte Form für die Carbonfaserlagen fungiert. Basierend auf einer Simulation des Kraftflusses in der gesamten Struktur wurden die notwendige Faseranzahl und Ausrichtung in jedem einzelnen Bauteil errechnet und in eine Abfolge von Wickelinstruktionen für die Roboter übertragen. Auf dieser Art und Weise werden sechs verschiedene Wickelstrukturen sukzessive aufgebracht, um das finale Bauteil herzustellen.

Bionischer Versuchsaufbau
Insgesamt wurden 36 unterschiedliche Bauteile hergestellt, deren Geometrie auf den abstrahierten Strukturprinzipien der Käferelytren beruht. Jedes davon besitzt einen individuellen Faserverlauf, der zum materialeffizienten Lastabtrag beiträgt. Diese komplexe Wechselwirkung aus den Eigenschaften von Material, Form, Struktur und Herstellung ist maßgeblich durch die Wickelsyntax definiert, die somit zum wesentlichen Bestandteil des computerbasierten Entwurfswerkzeugs wird. Das größte Element hat einen Durchmesser von 2,6 m bei einem Gewicht von gerade einmal 24,1 kg. Der Forschungspavillon überspannt eine Fläche vom 50m2 mit einem gesamt Gewicht von 593 kg und einem Rauminhalt von 122m3. ICD und ITKE lassen mit dem neuen Pavillon an der Schnittstelle multidisziplinärer Forschung nicht nur eine leistungsfähige und ressourcenschonende Leichtbaukonstruktionen entstehen, sondern schaffen auch neuartige, räumliche Qualitäten und erweiterte tektonische Möglichkeiten für die Architektur. Wir sind schon gespannt auf den nächsten Versuchspavillon der Universität Stuttgart.

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