24.10.2016 Bettina Sigmund

Elytra Filament Pavilion – robotische Architektur als Installation

Elytra Filament Pavilion im V&A (Victoria and Albert Museum, London)

Wie kam es zu der Kooperation mit dem Victoria and Albert Museum (V&A) in London?
Das V&A in London ist das weltweit führende Museum für Kunst und Design und gehört mit jährlich 3,3 Millionen Besuchern zu den meist besuchten Museen weltweit. Sein Ursprung geht zurück auf die Londoner Industrieausstellung von 1851, der ersten internationalen Weltausstellung überhaupt. Das V&A legt großen Wert auf Zusammenhänge zwischen Materialisierungsprozessen und deren Auswirkung auf Kunst und Design. In diesem Zusammenhang initiierte Martin Roth, Direktor des V&A, die V&A Engineering Season 2016. Diese beleuchtet die kreative Kraft der Ingenieurswissenschaften und deren oft nicht offensichtliche Auswirkungen auf das tägliche Leben. Zwei zentrale Elemente der Engineering Season sind eine Ausstellung zum Lebenswerk von Ove Arup und seiner multidisziplinären Entwurfs- und Konstruktionsphiliosphie sowie die architektonische Installation im John Madejski Garden, einem der meistbesuchten Orte des Museums. Zur Realisierung der Installation wurde ein interdisziplinäres Team gesucht, das auf zukunftweisende Art und Weise das Innovationspotenzial integrierter Entwurfs-, Fertigungs- und Konstruktionsstrategien darstellt. Das Kuratorenteam wurde durch unsere Vorarbeiten an der Universität Stuttgart auf uns aufmerksam. An der Schnittstelle zwischen Biologie, Flugzeugbau, Architektur und Bauingenieurwesen entstehen Leichtbaustrukturen, die sowohl bautechnische als auch baukulturelle Innovationen aufweisen. In einem entsprechend interdisziplinären Team wurde ein Konzept erarbeitet, das nicht nur eine ortsspezifische Umsetzung bereits erarbeiteter Methoden darstellt, sondern als fortlaufendes Forschungsprojekt mit hohem Neuheits- und Innovationsgrad geplant und vom V&A zur Ausführung beauftragt wurde. Was erwartet den Besucher nun dort?
Die Museumsbesucher erwartet eine hochinnovative, robotisch gefertigte Dachkonstruktion aus Carbon- und Glasfasern, die nicht nur als Demonstrator eines besonders materialeffizienten Leichtbausystems dient, sondern auch ein neuartiges architektonisches Formenrepertoire aufweist. Der frei zugängliche John Madejski Garden bietet mit seinen beindruckenden viktorianischen Fassaden, einem großen zentralen Wasserbecken und einer Mischung aus Café-Bereich und Liegewiese bereits einen sehr interessanten und vielfältigen Außenraum. Durch ihre hochgradig ausdifferenzierte Faserstruktur und variierende Raumhöhe ergänzt unsere Installation den Innenhof um weitere heterogene räumliche Situationen, die intensiv von der Öffentlichkeit zu verschiedensten Aktivitäten genutzt werden. Die Struktur kann sich im Laufe der Ausstellungszeit verändern. Wie kann man sich dies vorstellen?
Charakteristisch für das Erscheinungsbild des faserbasierten Leichtbaus sind die sichtbaren Faserverläufe. Jedes Element verfügt über eine individuelle Geometrie und Faserstruktur, die sich aus der Wechselwirkung zwischen Materialcharakteristik, robotischem Wickelprozess, den lokalen Anforderungen an das Tragverhalten sowie integrierten Funktionen wie Beleuchtung, Sensorik oder Klimamodulation ergeben. Anstelle eines Demonstrators bisheriger Entwicklungen stellt das Projekt am V&A ein fortlaufendes Forschungsprojekt dar. Die Carbonfaserstruktur verfügt über integrierte Sensorsysteme, die es erlauben, Zusammenhänge zwischen Besucherverhalten, klimatischen Kennwerten und den Spannungszuständen im Tragwerk herzustellen. Basierend auf diesen Informationen entscheidet ein Wachstumsalgorithmus über zukünftige Rekonfigurationen der Struktur und informiert den lokalen Roboter über die daraus resultierenden Anforderungen an die für den weiteren Ausbau zu produzierenden Bauteile. Dies ermöglicht es den Besuchern die Entstehung des faszinierenden Leichtbausystems vor Ort als dynamischen Prozess live mitzuerleben. Die lokal gefertigten Baukomponenten werden an das Dach angebaut, sodass sich dieses über den Lauf der Ausstellung in seiner Form an die Nutzung vor Ort anpasst. Dieser fortlaufende Zusammenhang zwischen Raumnutzung und Raumgenerierung ermöglicht ein evolvierendes mikroklimatisches, strukturelles und räumliches System, das als Vorbild für zukünftige öffentliche Grünräume dienen könnte. Welche technischen Innovationen werden durch den Elytra Filament Pavilion aufgezeigt?
Der Pavillon zeigt das Potenzial faserbasierter Leichtbausysteme und der zugrundeliegenden Entwurfs- und Fertigungsstrategien. Neuheiten und Innovationen in Entwurf und Konstruktion entstanden oft an der Schnittstelle zwischen Architektur und Bauingenieurswesen, wobei Technologie als Katalysator interdisziplinärer Arbeitsweisen dient. Aktuelle Fortschritte in computerbasiertem Entwurf, Simulation und Fertigung erlauben integrative Ansätze zur Kooperation zwischen Biologen, Architekten, Flugzeugbauern und Bauingenieuren. Gemeinsam gelingt es, ein neuartiges Konstruktions- und Gestaltungsrepertoire zu erforschen. Der dem Projekt zugrundeliegende produktionstechnische Fortschritt besteht aus einem kernlosen Wickelverfahren, bei dem Carbon- und Glasfaserrohlinge robotisch um wenige im Raum definierte Wickelpunkte abgelegt werden. Die Sequenz der abgelegten Faserstränge bestimmt dabei, in welcher Art und Weise die Faserbündel miteinander interagieren. Die zunächst gerade gespannten Fasern verformen sich während des Wickelprozesses wechselseitig, sodass eine gekrümmte Fläche entsteht. Somit wird es möglich, Bauteile mit individueller Geometrie und Faserlayout ohne den Material- und Kostenaufwand individueller Schalungen effizient herzustellen. Erst hierdurch eröffnet sich das Potenzial, die komplexen Faseranordnungen biologischer Leichtbaustrukturen auf ein technisches Bausystem zu übertragen. Computerbasierte Entwurfswerkzeuge dienen hierbei als Schnittstelle, an der Informationen verschiedener Akteure eines interdisziplinären Forschungsprojektes zusammenlaufen. Sie erlauben es, verschiedene Rahmenbedingungen und deren wechselseitigen Abhängigkeiten zu erfassen und formgenerierend umzusetzen. Neben den methodologischen Innovationen des Projekts weist das daraus resultierende Bausystem eine Reihe technischer Innovationen auf. Das Dach verfügt über integrierte Sensorsysteme, die Raumnutzung durch die Besucher, Klimafaktoren und Spannungszustände im Tragwerk messen. Faserverbundstrukturen eignen sich besonders zur Integration solcher Systeme, so besteht sowohl der faseroptische Sensor als auch Teile des Tragwerks aus Glasfasern. Eine baukonstruktive Innovation stellen die Verbindungsdetails mit der Fassade und den Stahlstützen dar. Die Gewinde zur Befestigung der Polykarbonat-Eindeckung sowie der Stahlstützen sind als Wickelpunkte bereits im Fertigungsprozess integriert. Als Schnittstelle zu weiteren Bausystemen sind diese ein wichtiges Detail für weiterführende Architekturanwendungen. Wie lange forschen ICD und ITKE schon am Prinzip? Es gab ja auch schon diverse Vorgängermodelle des Pavillons.
Pavillons haben historisch gesehen eine lange Tradition als Schauobjekte für neuartige Entwurfsansätze sowie Material- und Konstruktionssysteme. Mit den reduzierten programmatischen Anforderungen erlauben sie es, eine Reihe von Forschungsaspekten in den Vordergrund zu stellen und deren Potenzial im 1:1 Maßstab zu testen. Wichtig ist uns trotz des individuellen prototypischen Charakters jedes Forschungspavillons eine kontinuierliche auf den Erkenntnissen vorheriger Projekte aufbauende Entwicklung der Methoden und Materialsysteme zu verfolgen. Der ICD/ITKE Forschungspavillon 2012 und der ICD/ITKE Forschungspavillon 2013-14 stellen hierbei eigenständige Architekturen mit individuellem Charakter dar, dienen gleichzeitig aber auch als auch wichtige Schritte zur Entwicklung unserer Entwurfs- und Fertigungsmethoden für Faserverbundbauwerke. Der ICD/ITKE Forschungspavillon 2012 untersuchte als erster vollmaßstäblicher Prototyp das auch dem aktuellen Projekt zugrundeliegende robotische Wickelverfahren. Der Pavillon 2012 bestand aus einer mit kontinuierlichen Fasern gewickelten Monocoque-Schale mit 8 m Durchmesser. Besonders interessant war hierbei die aus dem Prozess entstehende faserige Materialcharakteristik. Der ICD/ITKE Forschungspavillon 2013-14 beruhte bereits auf der Konstruktionslogik der Käferschalen, die in Form einer segmentierten doppelschaligen Faserverbundstruktur umgesetzt wurde. Durch deren Robustheit und Skalierbarkeit wurde das Potenzial zur Anwendung als Bausystem erkannt und im aktuellen Projekt in London weiterverfolgt. Auch wenn das Projekt am V&A in nur ca. einem Jahr konzipiert und realisiert wurde, liegt ihm eine 4-jährige Forschungsarbeit zugrunde, die ich seit 2011 am Institut für Computerbasiertes Entwerfen begleitet habe. Was erwarten Sie sich durch die Aufmerksamkeit, die der Pavillon und das Bauprinzip nun bekommen? Gibt es schon weitere Pläne und konkrete Anwendungen?
Ziel ist es, dem Bauprinzip langfristige Relevanz im Bauwesen zu verschaffen. Hierzu werden momentan Langlebigkeit und Integration mit weiteren Baukomponenten untersucht. Das Bausystem wird kurz und mittelfristig in aktuell entwickelten Projekten verschiedener Größe zur Anwendung kommen. Parallel hierzu entstehen weiterhin Forschungspavillons mit sehr prototypischem Charakter, die an der Schnittstelle von Lehre und Forschung entwickelt werden. Diese Kombination aus prototypischer Forschung und Weiterentwicklung ermöglicht innovative Leichtbaukonstruktionen, die nicht nur Antworten auf gesellschaftliche Fragen der Ressourcen- und Energieeffizienz liefern, sondern auch eine neuartige, aus den Möglichkeiten dieser neuen Technologie hergeleitete, Architektur erlauben. Lesen Sie weitere Details über die Konstruktion und Herstellung des Elytra Filament Pavilion in der nächsten Ausgabe der DETAIL structure (2/2016) Der Pavillon kann noch bis zum 6. November im Viktoria and Albert Museum in London besichtigt werden.
Zur Person:
Moritz Dörstelmann arbeitet seit 2011 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Computerbasiertes Entwerfen der Universität Stuttgart. Sein an der RWTH Aachen begonnenes Architekturstudium schloss er mit Auszeichnung in der Meisterklasse von Zaha Hadid und Patrik Schumacher an der Universität für Angewandte Kunst in Wien ab. Im Zentrum seiner Arbeit steht die Erforschung neuartiger Entwurfs- und Fertigungsstrategien für architektonische Leichtbaukonstruktionen aus Faserverbundmaterialien. Moritz Dörstelmanns Arbeiten wurden international publiziert und ausgestellt. Er hält Vorträge und unterrichtet an verschiedenen internationalen Institutionen. Projektbeteiligte:
Design, Technik und Fabrikation:

Prof. Achim Menges mit Moritz Dörstelmann, Institute for Computational Design, Universität Stuttgart; Mitarbeit: Marshall Prado, Aikaterini Papadimitriou, Niccolo Dambrosio, Roberto Naboni, with support by Dylan Wood, Daniel Reist
Prof. Dr.-Ing. Jan Knippers, ITKE – Institut für Tragkonstruktion und Konstruktives Entwerfen, Universität Stuttgart; Mitarbeit: Valentin Koslowski & James Solly, Thiemo Fildhuth
Prof. Thomas Auer, Transsolar Climate Engineering, Stuttgart, Building Technology and Climate Responsive Design, TU München; Mitarbeit: Elmira Reisi, Boris Plotnikov
Auftraggeber: Victoria & Albert Museum, London 2016
Förderung: Victoria & Albert Museum, Universität Stuttgart, Getty Lab, Kuka Roboter GmbH + Kuka Robotics UK Ltd, SGL Carbon SE, Hexion, Covestro AG, FBGS International NV, Arnold AG, Pfeifer Seil- und Hebetechnik GmbH, Stahlbau Wendeler GmbH + Co. KG, Lange+Ritter GmbH, Still GmbH
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