19.12.2013 Florian Maier

Integrative Fassaden als Vermittler zwischen innen und außen

Für Tina Wolf, Leiterin des Fachgebiets für Technologie und Design von Hüllkonstruktionen an der TU München, sollten integrative Fassaden vor allem für behagliche Räume sorgen.

Wodurch unterscheiden sich »integrative« Fassaden von herkömmlichen Fassaden?

Integrative Fassaden – an unserem Fachgebiet nennen wir sie auch aktivierte adaptive Fassaden – beinhalten verschiedene, zu einem Ganzen vereinigte Funktionen oder Systeme. Dies kann durch ein Bauteil, aber auch durch die Schichtung von Bauteilen erfolgen. Auf jeden Fall handelt es sich um multifunktionale Fassaden, die zusätzliche bautechnische Aufgaben übernehmen und z.B auch Einfluss auf das Gebäudeklima haben. In ihrer Eigenschaft als Schnittstelle zwischen innen und außen gehört es zu ihren Aufgaben, die witterungs-, tages- und jahreszeitbedingten dynamischen Verhältnisse im Außenbereich zu kontrollieren und mit den statischen Anforderungen der Nutzung und des Nutzers in Einklang zu bringen. Konkret geht es also um die Lüftung und Belichtung ebenso wie um Sonnenschutz und das Raumklima. Je besser integrative Fassaden funktionieren, desto weniger technische Unterstützung ist im Gebäudeinneren nötig. Sind einfache einschalige Fassaden deswegen zwangsläufig unzureichend?

Es kommt darauf an, was man von der Fassade erwartet, und um welche Bauaufgabe es sich an welchem Standort handelt. In einem Wohnhaus ist eine einschalige Fassade mit gewöhnlichen Jalousien vor den Fenstern meist völlig ausreichend – es sei denn, man strebt Passivhaus-Standard an.

Vakuumröhren-Kollektoren

Forschungsprojekt bei Stefan Behling, Universität Stuttgart

Welche Aufgaben sollten heutige integrative Fassaden erfüllen?

Oberstes Ziel ist es, in den Innenräumen für Behaglichkeit zu sorgen. Das gelingt bei bestimmten Bauvorhaben wie etwa Bürogebäuden nicht, wenn man nicht integrativ denkt. Es geht also nicht in erster Linie um Energieeffizienz oder Klimaschutz?

Energieeffizienz und Klimaschutz sollten heute eigentlich längst Standard sein. Schließlich tragen Architekten und Planer in Bezug auf diese Themen eine große Verantwortung: 40 Prozent des Primärenergiebedarfs in Deutschland werden für Gebäude verwendet. Hier gilt es, eine drastische Reduzierung zu erzielen, bei gleichzeitiger Aktivierung der Gebäudeoberflächen zur aktiven Solarenergienutzung. Dennoch werden Gebäude nicht aus rein gestalterischen Bedürfnissen heraus entworfen, sondern um den Menschen behagliche Räume zu bieten, in denen sie sich wohlfühlen und in denen sie gesund bleiben. Daher steht der Mensch für mich in jedem Fall ganz klar im Mittelpunkt.
Gibt es die »perfekte« Fassade? Oder kann es immer nur Annäherungen an optimale Lösungen geben?

Es gibt nicht die »perfekte« Fassade, es gibt aber sehr wohl Fassaden, die vorbildlich auf die Dynamik im Außenraum des jeweiligen Orts und auf die Anforderungen aus der Nutzung abgestimmt sind. Und es gibt Strategien für unterschiedliche Bauaufgaben, Nutzeranforderungen oder städtebauliche Rahmenbedingungen. In dieser Hinsicht kann – zumindest für den Anfang – auch ein Blick in die Literatur hilfreich sein. Beispielsweise in die neue Publikation von Gerhard Hausladen »Klimagerecht Bauen – ein Handbuch«. Als ehemaliger Professor für Bauklimatik und Haustechnik an der TU München schreibt er natürlich ganz aus der Sicht des Bauklimatikers. Dabei zeigt er aber grundsätzliche Strategien auf, welche Maßnahmen in bestimmten Klimazonen in Bezug auf Fassadenkonzepte, Baukörperausrichtung, Dämmstärken, Fensterflächenanteile etc. sinnvoll sind. Gewissermaßen stellt er hier einige grundlegende Spielregeln zusammen.
Die klimatische und energetische Optimierung von Gebäuden geht oft mit hochtechnischen, automatisierten und computergesteuerten Lösungen einher. Geht das nicht auch einfacher?

Wenn man die Entwicklung seit den 1980er-Jahren von den Doppelfassaden bis hin zur Closed-Cavity-Fassade mit all ihrer notwendigen Sensorik verfolgt, sieht man, dass alles immer komplizierter und technisch aufwändiger wird. In letzter Zeit sind aber auch immer wieder Gebäude entstanden, bei denen es mit relativ einfachen Mitteln gelungen ist, einen hohen Nutzerkomfort zu erreichen. In diesem Zusammenhang finde ich zwei Projekte von Sauerbruch Hutton interessant. So plante das Büro erst das Frankfurter KfW-Verwaltungsgebäude – mit einer hochtechnischen Glasfassade, deren Klappen sich temperatur- und windgesteuert zum richtigen Zeitpunkt öffnen müssen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Auf der anderen Seite realisierten die gleichen Architekten beim Bau für die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt in Hamburg eine verblüffend einfache Gebäudehülle. Unmittelbar neben den normalen Fensterflügeln gibt es hier leicht zu bedienende Öffnungsklappen, die das Lüften auch bei starkem Wind ermöglichen. Hinzu kommt ein außenliegender Sonnenschutz, der durch seine leicht zurückversetzte Lage weniger exponiert im Wind liegt als sonst bei solchen Gebäuden üblich. Diese Fassade weist zweifellos eine gewisse Intelligenz auf – auch im Zusammenhang mit ökonomischen Faktoren. In finanzieller Hinsicht sind die meisten komplizierten Sonderlösungen alles andere als ein geeigneter Maßstab.

»Maison Tropicale«, Brazzaville, Architekt: Jean Prouvé

Abgesehen von gebäudeintegrierter Photovoltaik an geschlossenen Wandbereichen – wie lässt sich die Gebäudehülle noch nutzen, um nicht nur den Energieverbrauch zu reduzieren, sondern selbst Energie zu erzeugen? Eine sehr gute Methode, an der ich schon seit vielen Jahren forsche und die auch Thema meiner Doktorarbeit war, sind die transparenten Vakuumröhren-Kollektoren. Ausgangspunkt meiner Arbeit war die Erkenntnis, dass sich alle opaken Systeme nur schwer durchsetzen werden, weil sie nicht zur Ausbildung völlig transparenter Fassaden geeignet sind – einem nach wie vor ungebrochenen gestalterischen Wunsch der Architekten. Also versuchte ich, die für die Aufdach-Montage bereits erhältlichen Vakuumröhren unmittelbar vor Glasfassaden zu integrieren. Einerseits lassen sich die Glasröhren durch die integrierte Silberbedampfung (mit der das auftreffende Sonnenlicht auf den Absorber konzentriert wird) zur Erzeugung von heißem Wasser nutzen, mit dem dann solar unterstützt geheizt oder gekühlt werden kann. Auf der anderen Seite ergibt sich aus dieser Teilverspiegelung aber auch eine Verschattung der dahinter liegenden Räume. Resultat ist eine Art feststehender Sonnenschutz, der Tageslicht in den Raum gelangen lässt und zugleich Energie sammelt.

Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, Hamburg, Architekt: Sauerbruch Hutton

An den Vakuumröhren-Kollektoren haben Sie auch während Ihrer Zeit bei Stefan Behling am Institut für Baukonstruktion 2 an der Universität Stuttgart geforscht. Haben Sie die Arbeit hier in München fortgesetzt?

Das von mir bereits in Stuttgart bei Stefan Behling beantragte Folgeprojekt zur Entwicklung eines transparenten Fassadenkollektors für Verwaltungsbauten konnte ich um die Aspekte Sonnenschutzpotenzial und Tageslichtnutzung erweitern. Hierfür stand mir nach meinem Wechsel an die TU München eine von Thomas Herzog für Forschungszwecke errichtete Solarstation auf dem Dach der TU zur Verfügung. Dort haben wir den Prototypen der neuen Fassadenkollektor-Generation integriert und ein Messkonzept entwickelt, mit dem wir sowohl das Sonnenschutzpotenzial wie auch die Tageslichtnutzung des Systems in einem Musterraum messen konnten. Gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut und anderen Partnern aus dem Fassadenbau denken wir aber auch über ein flexibler montierbares System nach, das sich gestalterisch zurücknimmt, um in der Fassade weniger dominant und technisch zu wirken. Eine solche Lösung dürfte die heute eher mäßige Akzeptanz für solche Systeme steigern.
Welche aktuellen Forschungen gibt es derzeit am Fachgebiet für Technologie und Design von Hüllkonstruktionen?

Wir forschen nach wie vor im Bereich der Aktivierung von Oberflächen – Aktivierung im Sinne der Solarenergienutzung. Nicht nur bei Vakuumröhren, sondern auch an »bionischen« Strukturen. Bionische Prinzipien dienen als Inspirationsquelle, wenn wir adaptive Mechanismen der Natur auf Gebäudehüllenkonzepte zu übertragen versuchen. Außerdem beschäftigen wir uns mit autoreaktiven Systemen, die sich adaptiv-autoreaktiv je nach äußeren Rahmenbedingungen ohne Energiezufuhr oder menschliches Zutun anpassen können. Dabei ist das Material der Mechanismus, und das Material entscheidet, welche Bewegung stattfi ndet. Im Moment widmen wir uns in diesem Zusammenhang dem Thema Wärme, d.h. bestimmte Temperaturen entscheiden darüber, ob eine Bewegung stattfi ndet oder nicht.

KfW Westarkade, Frankfurt, Architekt: Sauerbruch Hutton

KfW Westarkade, Frankfurt von Sauerbruch Hutton

Können Sie Beispiele für autoreaktive Materialien oder Systeme nennen?

Gemeinsam mit Studenten haben wir versucht, Architekturlösungen mit autoreaktiven Komponenten zu entwickeln, etwa mit eigentlich ein ganz einfachen Bauteilen aus dem Gewächshausbau, mit denen Fenster automatisch geöffnet werden, damit die Pflanzen bei sommerlicher Hitze nicht verbrennen. Ergebnis war z.B. eine Struktur aus opaken Dreiecksflächen, die sich im direkten Sonnenlicht aufwölben und so den benachbarten transparenten Teil verschatten. Ist die Sonne dann wieder weg, gehen sie in die Ausgangsposition zurück. Im Prinzip könnte man damit auch den Luftaustausch zwischen innen und außen regeln.

Autoreaktives Material, das sich unter Wärmeeinwirkung selbstständig bewegt

Studentenprojekt »suntrap«

Also verhält sich jeder Teil der adaptiven aktiven Fassade je nach Sonneneinstrahlung anders?

So ist es. Eine weitere Studentenarbeit, die den ersten Preis beim Cloudscap.es Award gewonnen hat, war inspiriert durch die Fähigkeit von Tulpen, ihre Blütenblätter zu bewegen. Bei Sonnenschein wächst die innere Schicht der Blütenblätter schneller, wodurch sie nach außen gedrückt und geöffnet werden. Wird es kälter, wächst die äußere Schicht schneller als die innere und sorgt dafür, dass sich die Blüte wieder schließt. Basierend auf diesem Grundprinzip haben die Studenten ein Fassadenkonzept für eine Verschattung entwickelt – mit einem autoreaktiven Bauteil und einer blütenförmigen textilen Struktur, die sich auffalten kann. Bei Sonnenschein öffnet sich die »Blüte« und bildet große »Teller«, die in diesem Fall zweilagig angeordnet sind, weil sonst die Zwischenräume nicht verschattet wären. Wenn ein Teil des Gebäudes etwa durch Nachbargebäude oder Bäume im Schatten liegt, gehen die Blüten innerhalb weniger Minuten wieder zu (wir haben das mit einem kleinen Prototyp getestet) und geben den Blick auf die Fassade bzw. umgekehrt auf die Umgebung frei.

Studentenprojekt »bloom« – autoreaktives
Bauteil mit blütenförmiger Struktur

Ist die Realisierung solcher, mehr oder weniger komplexer integrativer Systeme innerhalb »normaler« Entwurfs- und Realisierungsprozesse möglich?

Die gerade erläuterten Arbeiten stammen aus dem Bereich der Forschung, sind also weit weg von konkreten Umsetzungen. Die Realisierung komplexer integrativer Fassadensysteme bedarf der Zusammenarbeit mit den erforderlichen Fachplanern bereits zu Projektbeginn. Im Interesse des Bauvorhabens und dessen ökonomischem, ökologischem und architektonischem Erfolg gilt es, im Vorfeld klug mit dem Bauherrn zu verhandeln, um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Anfang an zu ermöglichen. Im üblichen Planungsprozess werden die Fachplaner – Tragwerksplaner ebenso wie Haus- und Bautechniker – meistens zu spät beteiligt. Unser Ziel an der TU München ist es daher, den Studenten durch konkretes Praktizieren während des Entwurfsprozesses eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zuermöglichen und ihnen die Kompetenz mit auf den Weg zu geben, parallel zum Entwurf auch Gebäudetechnik- bzw. Energiekonzepte entwickeln und diskutieren zu können. Überlegungen und Konzepte hierzu verlangen wir ihnen bereits bei der Präsentation der ersten Entwurfsideen ab. Schließlich würde es keinen Sinn machen, erst Häuser zu entwerfen und danach zu sehen, wie das Ganze bautechnisch funktionieren könnte. Das ist bei uns eigentlich nicht anders als in der Praxis.

Studentenprojekt »lotec« – autoreaktives
Bauteil mit Dreiecksflächen

Gibt es in Bezug auf integrative Fassaden besonders gelungene Beispiele aus der Architekturgeschichte?

Bemerkenswert ist das von Jean Prouvé zu Beginn der 1950er-Jahre für die kongolesische Hauptstadt Brazzaville entwickelte »Maison Tropicale« – ein modulares Wohnhaus, das auf der Erkenntnis beruht, dass Häuser in Afrika anders konzipiert sein müssen als in Europa. Also verfügt es über ein weit auskragendes Dach, Sonnenschutzlamellen sowie über große runde, von Hand drehbare Lüftungsöffnungen, mit denen sich die kühlende Luftzirkulation individuell regulieren lässt. Für mich ist das ein faszinierendes Beispiel für wirklich gelungenes Bauen im Kontext. Jean Prouvé hat sich intensiv mit den Klimabedingungen Afrikas auseinandergesetzt und dabei eine der ersten modernen integrativen Fassaden entwickelt. Damit war er wesentlich weiter als viele heutige Architekten, deren Bürohäuser trotz völlig unterschiedlichem Außenklima überall auf der Welt gleich aussehen.

Solarstation auf dem Dach der TU München

Mehr zum Thema in der DETAIL Sonderpublikation 12|2013 Integrative Fassaden.
Zur Person
Tina Wolf studierte Architektur an der Universität Stuttgart und war danach unter anderem in den Architekturbüros Renzo Piano Building Workshop, Paris, und Thomas Herzog, München, tätig, bevor sie als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Stuttgart am Institut für Baukonstruktion, Stefan Behling, arbeitete und promovierte. Seit 2009 leitet sie das neu gegründete Fachgebiet für Technologie und Design von Hüllkonstruktionen an der TU München. Zentrales Forschungsgebiet ist die Entwicklung innovativer Komponenten für Gebäudehüllen.
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