11.11.2015 Frank Kaltenbach

Verbinden ohne Verbindungsmittel – ICD-Pavilion aus Granulat

Mit dem ICD Aggregate Pavilion stellte das Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) der Universität Stuttgart im Sommer 2015 sein Forschungsprojekt zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Verblüffend ist nicht nur das Ergebnis – senkrecht stehende Säulen, die ohne jedes Verbindungsmittel zusammenhalten und sich selbst tragen – sondern auch die Art der Montage. Ohne jedes Gerüst wurden die Granulate aufeinandergesetzt. Nicht von Menschenhand, sondern von einem automatisierten Greifer, der an vier Seilen über den kreisrunden Betonfundamenten der Säulen nach vorprogrammierten Bewegungsmustern hin und herfährt und die einzelnen Partikel präzise platziert. Mit dem Seilroboter konnten die Säulen während der Ausstellungsdauer in nur wenigen Stunden aufgebaut und mehrmals neu konfiguriert werden.

Bevor die Granulate aus recyceltem Kunststoff im Spritzgussverfahren hergestellt werden konnten, musste die geeignetste Geometrie in aufwendigen Forschungsreihen ermittelt werden. In einem parametrischen Modell haben Karola Dierichs und Achim Menges die Sternform aufgebaut und so lange variiert, bis die Ergebnisse der Computersimulationen nach der Diskrete Element Methode (DEM) und physische Tests mit Maßstabsmodellen und Prototypen im Maßstab 1:1 die gewünschten Ergebnisse zeigten.

Die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschungen, die zeigen, welchen Einfluss die Form des einzelnen Granulats auf den Winkel des Schüttkegels und somit auf die Statik hat, sollen nun in der Praxis erste Anwendungen finden. Neben vertikalen Systemen konnten bisher auch Bögen und Kuppeln konstruiert werden, die ebenfalls ohne Gerüste und ohne Verbindungsmittel zusammenfügt und damit rückstandslos demontierbar sind.

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

Foto: ICD Universität Stuttgart

DETAIL-Redakteur Frank Kaltenbach befragte Karola Dierichs, inwieweit synthetische Granulate die Architektur der Zukunft verändern können.


Was ist der theoretische Hintergrund Ihrer Untersuchungen? Auf welche Forschungen konnten Sie aufbauen und welche Aspekte sind neu?
Das Fachgebiet "Synthetische Granulate in der Architektur" ist gänzlich neu und wird derzeit nur am ICD entwickelt. Die parametrische Untersuchung der Partikelformen, die Untersuchung der möglichen Bau-Geometrien und deren numerische Simulation mit nicht-konvexen Teilchen sind ebenso neu wie der Einsatz des Seilroboters für die Montage. Vorarbeiten gab es unter Herrn Menges in London. Parallel beginnen derzeit einige namhafte Granular-Physiker, mit denen wir kooperieren, die physischen Eigenschaften dieser Granulate zu untersuchen. Wir gehen momentan davon aus, dass sich das Gebiet in den nächsten Jahren weiter verbreiten wird, da es auf zunehmendes Interesse in unserer Community stößt.

Was genau ist das Ziel Ihrer Forschungen?

Das Ziel des Pavillons war es, eine erste Struktur im öffentlichen Raum zu errichten. Die Herausforderung stellt dabei vor allem die Menge der Teile und die gesamte Größe der Struktur aus losem Granulat dar.

Nach welchen Parametern haben Sie die Formgebung der »Stacheln« entwickelt? Was kann diese Form, was andere Strukturen nicht können?
Die Partikel sind auf einem einheitlichen, parametrischen Model aufgebaut, das die Länge und die anzahl der Arme variieren kann. Basierend auf diesem parametrischen Modell mit dem 3D Drucker Partikel verschiedener Geometrien hergestellt, mit denen wir Packungstests durchgeführt haben. Das besondere Merkmal von Partikeln mit langen Armen im Vergleich zu konvexen Körnern wie beispielsweise Sand ist der höhere Widerstand gegen Scherkräfte. Dies führt unter anderem dazu, dass ein Winkel von 90 Grad möglich ist, der stark  von den ca. 30 bis 40 Grad des klassischen Schüttkegels abweicht.

Welche Rolle spielt die Programmierung und der Einsatz des Seilroboters innerhalb des Forschungsprojekts?
Der Bereich Robotik beinhaltet die Untersuchung und Entwicklung von robotischen Systemen für Bauräume im Maßstab 1:1. Das Bauen mit Granulaten ist aber nicht zwingend an den Roboter gebunden, zunächst haben wir den Pavillon manuell aufgebaut um die Fertigung mit dem Seilroboter zu testen. Die robotische Fertigung ist ein wichtiger Teilaspekt des Projekts, der Schwerpunkt liegt aber auf den Partikel-Geometrien, der "Performanz" und dem Herstellungsprozess für granulare Systeme mit synthetischen Partikeln..

Weshalb haben Sie vertikale Säulen als Typologie für den ersten öffentlichen Auftritt gewählt?
Vertikale Säulen sind für ein granulares System eine eher schwierige Form, da es normalerweise Schüttkegel oder Höhlen/Bögen formt. Wir haben bereits Kuppeln, Bögen und auch geschwungene Wände realisiert. Bezüglich der statischen Berechnungen haben wir ein Programm entwickelt, das diese Strukturen simuliert. Da es sich dabei aber um Systeme mit hoher statistischer Streuung handelt, werden noch einige Versuchsreihen nötig sein, bis man diese Simulationen auch als verlässliche Vorhersagemodelle einsetzen kann.

Ist eine konkrete praktische Anwendung beabsichtigt?
Es geht in der Arbeit primär darum, die Geometrien der Partikel und die daraus entstehenden Baustoffeigenschaften zu erforschen. Das wird sich in der Zukunft ändern, wenn wir die Granulate besser kennen. Praktische Anwendungen sind durchaus beabsichtigt: die Strukturen eignen sich besonders für schnelle, temporäre Bauten. Es ist beispielsweise auch ein temporäres "Einfrieren" mit Eis möglich.

Was können solche Konstruktionen im Vergleich zu bisherigen Bauweisen?

Die Strukturen benötigen kein Bindemittel, sind also völlig recyclebar und damit schnell auf- und abbaubar. Sie erlauben hauptsächlich druckbasierte Formen, können aber auch Zugkräfte aufnehmen, wenn Haken in die Partikel eingefügt werden. Ein weiterer Vorteil der Konstruktion ist, dass sie funktional gradierbar ist, sodass zum Beispiel durch Veränderung der Wandstärke die Lichtdurchlässigkeit variiert werden kann.

Ist die Arbeit abgeschlossen oder wird eine Weiterentwicklung folgen?

Die Arbeit ist nicht abgeschlossen, wir beginnen gerade ein neues Forschungsprojekt mit Kooperationspartnern aufzubauen.

Vielen Dank für das Gespräch

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