08.10.2015 Bettina Sigmund

Was bedeutet Bauen im demographischen Wandel?

Was versteht man unter dem demographischen Wandel?
„Der demographische Wandel ist ein Prozess, der auf Veränderungen gesellschaftlicher Art wie Wertesystem, aber auch Technologie und Forschung fußt. Er zeigt sich im Bevölkerungsrückgang und der Alterung in vielen Regionen und letztendlich in einer veränderten Bevölkerungsstruktur. Unsere Gesellschaft wird bunter. In der Diskussion sollte man aber darauf achten, den demographischen Wandel hauptsächlich auf Veränderungen von demographischen Indikatoren einzugrenzen. Der Begriff ist sonst wie ein Kaugummi, der sich über alles legt,“ erläutert Matthias Waltersbacher, Referatsleiter für den Bereich „Wohnungs- und Immobilienmärkte“ des BBSR. „Im Prinzip subsummiert der Begriff Perspektiven, die bestimmt schon 40 Jahre bestehen. Der Wandel ist darin begründet, dass Mitte der 1960er-Jahre der Geburtenrückgang, auch als Pillenknick beschrieben, in Deutschland begann. Die Zahl der Geburten halbierte sich innerhalb von 10 Jahren. Um die Jahrtausendwende hatten sich Brüche, die sich in den 1990er-Jahre ergeben hatten, wieder beruhigt. Die Nachwendezeit oder die Öffnung Osteuropas waren durch Zuwanderung geprägt. Es war auch eine Phase in der sehr viel gebaut wurde. Um 2000 gab es letztlich kaum Zuwanderung, weswegen die Probleme richtig offensichtlich wurden. Plötzlich gingen die Bevölkerungszahlen herunter. Würden nicht jährlich Menschen nach Deutschland zuwandern, würden die Bevölkerungszahl und damit auch die wirtschaftliche Nachfrage noch schneller schrumpfen. Deswegen interessieren sich momentan auch viele für das Thema, weil es Folgen hat. Wer etwas verkaufen will, dem fehlt die Nachfrage. Etwa um die Jahrtausendwende ist auch deutlich geworden, dass wir in einer stark alternden Gesellschaft leben. Der demographische Wandel greift also. Man muss aber genauer hinschauen, denn es ist auch ein gesellschaftlicher Wandel. Nicht nur die Bevölkerung wird alt und schrumpft, sonders unser gesamtes Wertesystem ändert sich. Welche Bedeutung hat die Familie, welche Rolle spielen Kinder in unserer Gesellschaft, wie beeinflusst Technik unser Leben? Trotzdem sind die Hauptkriterien des demographischen Wandels weiterhin die Strukturen und Veränderungen der Bevölkerung“. Wie schlägt sich diese Entwicklung in der Immobilienwirtschaft nieder?
„In der Praxis der Wohnungswirtschaft betrachten wir nicht allein eine bestimmte Zielgruppe, sondern alle. Die meisten Wohnungsunternehmen berücksichtigen im wesentlichen Zielgruppen, die sich im unteren und mittleren Einkommenssegment befinden. Das betrifft einen Großteil der Bevölkerung. Es geht um Junge, um Familien, um Alleinstehende und natürlich aufgrund des zunehmenden Anteils an der Bevölkerung auch um die Alten. Die Zusammensetzung der Haushalte verändert sich jedoch auch. Wir haben mehr Singlehaushalte mit auch anderen Flächenbedarfen, da weniger Personen im Wohlstand immer mehr Wohnfläche brauchen. Insofern hat sich die Nachfrage an reinem Wohnflächenverbrauch gar nicht so sehr zurückentwickelt. Aber die Ansprüche haben sich verändert. Es besteht das Bedürfnis, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung verbleiben zu können. Da treffen die Wünsche der Mieter mit den ökonomisch motivierten Wünschen der Wohnungsunternehmen zusammen“, erklärt Dr. Claus Wedemeier vom GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. auf die Frage nach der Relevanz für die Immobilienwirtschaft. „Die größte Relevanz haben dabei Eingriffe in den Bestand. In der Wohnungswirtschaft müssen wir immer wirtschaftlich arbeiten. Je länger ich eine Person in einer Wohnung halten kann, desto wirtschaftlicher ist es. Es gibt nichts Teureres als einen Wohnungswechsel. Das ist eine der wichtigsten Stellschrauben. Bei einer hohen Fluktuation geht die Wirtschaftlichkeit schnell in die Knie. Wir versuchen deshalb alle unsere Wohnungen barrierearm umzurüsten. Sobald eine Wohnung frei wird, werden anhand eines Katalogs möglichst viele Maßnahmen umgesetzt. Das tun wir immer, auch aus eigenem Interesse. Weil wir wissen, wenn die Leute lange in ihren Wohnungen wohnen, haben wir etwas davon und die Mieter auch“, ergänzt André Zaman, Leiter Planung und Projektmanagement der BASF Wohnen + Bauen GmbH. Wer und wie sind die Alten von morgen?
„Wir sind die Alten von morgen. Zwei wesentliche Aspekte sind die Emanzipation und der Wunsch nach Selbstbestimmung“, so Jörg Fischer, Geschäftsführer von Feddersen Gesellschaft von Architekten mbH in Berlin. „Lange Zeit fokussierte man sich allein auf den Versorgungsgedanken von Menschen mit Einschränkungen. Es gab Sonderwohnformen für Alte, für Kinder, für Kranke, für geistig oder körperlich Behinderte. Diese Versorgung hat immer am Rande oder außerhalb der Gesellschaft stattgefunden. Heute wollen die Menschen – und vor allem auch die Älteren – selbst bestimmen, wie sie leben. Wir stellen fest, dass zeitgemäße Angebote nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind. Das Angebot hinkt der Nachfrage hinterher, es gibt Anpassungsschwierigkeiten. In der Diskussion um die Alterung der Gesellschaft dürfen also nicht nur die Zahlen im Fokus stehen, sondern die Wünsche der Menschen.“ Welche Rolle haben technische Assistenzsysteme, um diese Selbstbestimmung möglichst lange zu erhalten?
Ob die positive Unterstützung von technischen Assistenzsystemen wie sie beispielsweise schon in der Automobilindustrie angewandt werden, auch sinnvoll auf das Wohnen übertragbar sei, spaltet die Expertenrunde. Jörg Fischer steht der Nutzung kritisch gegenüber: „Es stellt sich immer die Frage, wie benutzergerecht und wie fehlertolerant die technischen Systeme sind. Ich verstehe, dass die Industrie hier neue Chancen sucht. Doch neue Technologien sind für Menschen, die kognitive Einschränkungen haben, oft nur schwer zu verstehen. Wer 50 Jahre lang einen Lichtschalter gedrückt hat, wird diesen auch im hohen Alter an der gleichen Stelle suchen.“ Claus Wedemeier sieht den Bedarf an die technische Ausgestaltung auch im Wohnumfeld hingegen steigend. „Es gibt viele Studien, die die Nähe von bestimmten Altersgruppen zur Technik analysieren. Die Nutzung von Smartphones oder auch Social Media ist besonders in der Zielgruppe 65+ steigend. Die Nutzung dieser Medien nimmt zu. Wenn ein Mensch gewohnt ist, mit einem Smartphone zu arbeiten, dann wird er auch später mit Assistenzsystemen, die ähnlich aufgebaut sind, arbeiten können. Studien haben eindeutig ergeben, dass ältere Menschen auch jenseits der 80, durchaus bereit und in der Lage sind, mit diesen Techniken umzugehen.“ Jürgen Schlotthauer, Leiter des Bereichs Haustechnik der BASF Wohnen + Bauen stellt dabei die Bedienerfreundlichkeit und den Nutzen in den Vordergrund: „Wenn die Menschen einen wirklichen Mehrwert von der Technik haben, dann benutzen sie diese auch. Wenn sich die Technik ständig aufhängt, dann nicht. Für unsere Generation ist die Handhabung eines Tablet-PC selbstverständlich. Wir werden auch im Alter keine Schwierigkeiten mit der Bedienung haben. Dieser Wandel dauert noch eine Alten-Generation.“ Auch die Einstellung von Architekten zur Integration von assistierender Technik wird kritisch diskutiert. Während Jörg Fischer diese nicht „im Zentrum unserer Aufgaben als Architekten“ sieht, ist Claus Wedemeier von der Einstellung vieler Architekten grundsätzlich so zu bauen, dass sie mit möglichst wenig Technik auskommen, irritiert. Er selbst sieht die unterstützenden Maßnahmen des Smart Homes unter dem Komfortaspekt, wie das Navigationsgerät im Auto oder das Handy im Bereich der Kommunikation. Gegen beide technische Neuerungen, die man nun nicht mehr missen möchte, gab es in den Anfangsjahren von Vielen großen Widerstand. Woran arbeitet die Bau- und Immobilienforschung?
Guido Hagel von der Forschungsinitiative Zukunft Bau von BMUB und BBSR erläutert: „Viele Studien und Untersuchungen befassen sich im Rahmen des demographischen Wandels mit der zukünftigen Nachfrage. Aus Sicht des Forschungsförderers kann ich berichten, dass dabei die isolierte Betrachtung der Gruppe der Alten ziemlich stark nachgelassen hat. Während das vor zehn bis fünf Jahren ein großes Thema war, hat sich nun die Betrachtungsweise ein wenig geändert. Man versucht jetzt Konzepte oder Lösungen zu entwickeln, die für alle Altersgruppen greifen. Wohnungen sollen möglichst ein Leben lang genutzt werden, sie sollen wandelbar oder anpassbar sein.“ Welches sind also die sich am Wohnungsmarkt momentan abzeichnenden Trends?
Der Wunsch sind flexible Wohnungen, die den Aspekt des alters- oder allengerechten Bauens als Lifestyle oder Universal Design positiv besetzen, die flexibel und modular mit den Bedürfnissen ihrer Bewohner mitwachsen. Das Thema des demographischen Wandels soll als Chance begriffen werden. Darin sind sich alle Experten einig. Sie sind sich aber auch einig, dass die Realität am Wohnungsmarkt anders aussieht. Jörg Fischer berichtet: „Wohnungsbaugesellschaften stehen momentan massiv unter Druck, zeitnah kostengünstigen Wohnungsbau zu erstellen. Es geht dabei nicht um Komfort und Flexibilität, sondern in erster Linie um Effizienz. Als Reflex auf die enorme Nachfrage und den sehr angespannten Wohnungsmarkt sollen nun serielle Neubauten mit kompakten Grundrissen zu günstigen Preisen und geringen Baukosten entstehen. Demgegenüber stehen Projekte im Eigentumswohnungsbau oder eigeninitiierte Baugruppenprojekte. Diese leisten es sich, generationengerecht zu bauen. Bei Baugruppen kann man feststellen, dass das Thema immer mehr in den Fokus gerät. Die Menschen bauen sich Wohnung, die nach ihren Ansprüchen generationengerecht sind – jenseits von DIN-Normen über Barrierefreiheit und Bewegungsflächen.“ Guido Hagel weist jedoch darauf hin, dass trotz Wohnungsnot und der aktuellen Debatte um die schnelle und kostengünstige Beschaffung von Wohnraum für Flüchtlinge keine Abschaffung von bestehenden Standards stattfinden solle. Schlichtbauten, wie sie in den Nachkriegsjahren entstanden sind, wären keine Lösung. Stattdessen sehen aber alle Teilnehmer die Standardisierung als eine der wichtigen Stellschrauben. Gibt es unterschiedliche Ansätze für Stadt und Land in der Diskussion?
„Bei der dörflichen Betrachtung geht es darum, Infrastrukturen aufrecht zu erhalten“, so Guido Hagel. „Es geht um Leerstand und darum, wie der dort verbliebene Rest gut leben kann. Ein großes Thema sind dort multiple Häuser, die als zentrale Anlaufstellen verschiedene Funktionen und Dienstleistungen bündeln.“ „In den kleinen Ortschaften geht es um eine knallharten Infrastrukturkampf zwischen den Gemeinden. Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Standortmarketing im Dorf ist absolut notwendig geworden“, ergänzt Roland Streng von BASF. Matthias Waltersbacher sieht im ländlichen Raum primär den Wohnbestand im Eigenheim als relevantes Thema. „Man müsste sich auch verstärkt mit dem Thema der Überalterung von Eigenheimgebieten auseinandersetzen. Die Bewohner der ersten Suburbanisierungswelle aus den 1960er-Jahren sind nun alle schon fast hochbetagt. Viele Siedlungen überaltern und dünnen aus. Das wird zu einem Problem. Es stellt sich die Frage, wo die staatliche Aufgabe anfängt. Während das Altersthema im Mietwohnungsbau auch in die Wohnungspolitik einfließt, überlässt man den Eigenheimbesitzern diese Thematik als private Aufgabe. Das hat etwas Schicksalhaftes. Ich finde, auch hier kann sich der Staat nicht aus der Verantwortung nehmen. Der ländliche Raum wird dadurch bereits in der politischen Diskussion abgehängt.“ Ergeben sich im Bauen für den demographischen Wandel spannende neue Aufgaben für Architekten?
„Es gibt momentan noch relativ wenige Büros, die sich intensiv damit beschäftigen, dabei gäbe es viele Aufgaben für hochqualifizierte Architekten“, meint Jörg Fischer. „Die meisten, die sich im Wohnungsbau betätigen, haben kein allzu großes Interesse an Themen wie Barrierefreiheit. Der Neubau ist relativ stark von Normen geprägt. Und dann kommt auch noch die DIN 18040 „Barrierefreies Bauen“ hinzu. Diese Reglementierungen werden immer mehr als Einengung des Gestaltungsspielraums wahrgenommen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die DIN 18040 immer 1 zu 1 umgesetzt wird oder nicht, sondern wir sprechen über Komfort, über Universal Design und über für möglichst alle nutzbare Wohnungen. Und da spielt letztendlich der Drehkreis für einen Rollstuhl eine untergeordnete Rolle. Man kann unter den Planern Akzeptanz für die Sinnhaftigkeit generationengerechter Architektur finden. Man müsste in der Ausbildung und bei Architekten für Verständnis werben, einen positiven Hintergrund schaffen und nicht so sehr den Weg über die Normen zu erzwingen. Wenn man bereit ist, sich als Planer sensibel mit dem Thema zu beschäftigen und bereit ist, sich darauf einzulassen, dann ist es nicht nötig, alles über Verordnungen zu fixieren.“ Dann wäre barrierefreies Bauen wieder eine Gestaltungsaufgabe und keine Erfüllung von Zwängen...
„Es ist ohnehin eine Gestaltungsaufgabe. Es gilt die Gestaltungschancen zu erkennen und damit zu arbeiten. Das ist noch nicht stark genug ausgeprägt – sowohl bei den Architekten als auch bei den Investoren,“ unterstreicht Jörg Fischer. „Es sollte darum gehen, clevere Lösungen zu finden, mit denen man möglichst viele Menschen mit Verbesserungen in ihren Wohnungen erreichen kann. Dies kann vor allem im Bestand geschehen. Mit Maximalforderungen für den Neubau erreicht man wenig und vor allem keine Akzeptanz. Ich denke, man kann die Menschen mit guten Beispielen überzeugen.“ Die Fragen stellte die Moderatorin Prof. Christiane Sauer. Zum öffentlichen Symposium am Nachmittag stellten noch einmal alle Referenten ihre Themen und Thesen vor, darunter auch Prof. Irene Lohaus, Institut für Landschaftsarchitektur der TU Dresden, die am Vormittag zur Expertenrunde verhindert war. Sie sprach über „Barrierefreiheit im öffentlichen Raum“.
Über die Reihe „Die Zukunft des Bauens“ 

Die Veranstaltungsreihe „Die Zukunft des Bauens“ der Forschungsinitiative Zukunft Bau von BBSR und BMUB in Kooperation mit DETAIL research geht bereits in die dritte Runde. Auch in 2015 werden wieder fünf Veranstaltungen mit Expertenrunde und Symposium in fünf deutschen Städten stattfinden. Die Reihe widmet sich immer den drängendsten Fragen für das Bauen der Zukunft, präsentiert aktuelle Forschungsergebnisse und bringt Akteure und Vorreiter aus Planung, Forschung, Politik und Wirtschaft zusammen. Dabei sollen nicht nur die neuesten Ergebnisse aus den geförderten Projekten der Forschungsinitiative direkt an Architekten und Bauingenieure vermittelt werden, sondern auch immer neue Impulse für die Forschung generiert werden. Informationen zu den Referenten und deren Themen, sowie der weiteren Veranstaltungen im Rahmen der „Zukunft des Bauens“.
Hamburg, 21. Mai 2015: Moderner Sozialbau 

Frankfurt, 18. Juni 2015: Partizipative Architektur 

München, 24. September 2015: Lebenswelten im Demographischen Wandel 

Berlin, 22. Oktober 2015: Bauen im Bestand 

• Stuttgart, 19. November 2015: Recycling im Bau Kooperationspartner
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