16.01.2011

Der energethische Imperativ

In seinem letzten Buch schärft der unlängst verstorbene „Solarpionier“ Hermann Scheer nochmals den Blick für die notwendigen Weichenstellungen und drohenden Konflikte, die die weitere Entwicklung der erneuerbaren Energien in den kommenden Jahren begleiten werden. Dabei geht Scheer wie üblich mit den großen Energiekonzernen hart ins Gericht.
Hermann Scheer war Ökonom, Politiker, Solarpionier, Visionär – und bis zu seinem frühen Tod im Oktober 2010 unermüdlich dabei, Missverständnisse über die Erneuerbaren Energien zu beseitigen und Menschen für deren Durchsetzung zu begeistern. Oft genug stellte er sich dabei gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung und gegen den scheinbar bequemen Konsens. Auch in seinem letzten Buch „Der Energethische Imperativ“ bleibt er diesem Grundsatz treu und geißelt viele Initiativen und Mechanismen als verfehlt, die die internationale Energiepolitik und –wirtschaft in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Seine „schwarze Liste“ reicht in diesem Buch vom Emissionshandel bis zur unterirdischen CO2-Speicherung und von Strom- „Supergrids“, die einmal Europa überspannen sollen, bis Desertec.

Wer Scheer kannte und gelesen hat, weiß, dass ein Umschwenken auf globale oder jedenfalls internationale, zentralistisch geplante Energiekonzepte von seiner Seite kaum zu erwarten war. Auch in seinem jüngsten Buch propagiert er stattdessen jene Thesen, auf die sich seine Energiepolitik schon immer gestützt hat: Die „Energiewende“ ist machbar, doch sie muss dezentral vor sich gehen, und sie wird Energie-Importländer wie Deutschland zu mehr Sicherheit, Wohlstand und Autonomie führen.

Die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre schien Scheers Aussagen zu bestätigen – zumindest was die Umsetzbarkeit angeht: Knapp 20 % des deutschen Strombedarfs werden inzwischen aus erneuerbaren Quellen gedeckt. Das sind weit mehr, als noch zu Anfang des Jahrhunderts selbst eingefleischte Umwelt- und Klimaschützer für möglich gehalten hätten. Und nachdem die Kanzlerin noch 2005 erklärt hat, dass ein Anteil von mehr als einem Fünftel „Erneuerbarer“ am deutschen Stromaufkommen auch in ferner Zukunft nicht realisierbar sei, reden inzwischen selbst Vertreter der traditionellen Energiewirtschaft von einer Vollversorgung durch erneuerbare Energien.

Dennoch sieht Hermann Scheer die Erneuerbaren Energien am Scheideweg angekommen: Die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke, die lauter werdende Kritik an den Kosten der erneuerbaren Energien zu zahlen hat und die Proteste gegen neue Windparks, Stromtrassen und Pumpspeicherkraftwerke (die den aus „Erneuerbaren“ gewonnenen Strom weiterleiten bzw. speichern sollen) drohen deren weiteren Ausbau zumindest spürbar zu bremsen.

Gerade in einer solchen Verlangsamung sieht Scheer heute die Hauptgefahr. Nicht von ungefähr schließt sein Buch daher mit dem Satz: „Der energethische Imperativ lautet: ultimative Beschleunigung“. Diesem Credo folgend, leistet er mit seinem Buch dreierlei: Erstens beschreibt er den Grundkonflikt zwischen den großen Energiekonzernen und den neuen, dezentral tätigen Akteuren auf dem Energiemarkt, zu denen er auch die vielen Stadtwerke in Deutschland zählt. Nachdem die vier „Großen“ (E.on, RWE, EnBW und Vattenfall) die Erneuerbaren zunächst ignoriert hätten, versuchten sie nun, deren Ausbau wo immer möglich zu bremsen und, wo nicht möglich, nach ihren Vorstellungen – also zentralistisch – zu gestalten.

Zweitens kritisiert Scheer die zahlreichen Fehlentwicklungen, die seiner Meinung nach in den vergangenen Jahren eingetreten sind oder noch einzutreten drohen. Egal, ob Emissionshandel, Laufzeitverlängerung oder Konzepte für europäische „Supergrids“ – Scheer sieht darin eine Bremswirkung für den Ausbau der erneuerbaren Energien hierzulande, weil diese Initiativen entweder planwirtschaftliche Ansätze verfolgten oder die Strukturen der überkommenen, zentralistischen Energiewirtschaft verfestigen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Deutschland, das Scheer ausdrücklich lobt, kommt dagegen ohne beides aus und hat genau dadurch unzählige dezentrale Initiativen in Gang gesetzt. Damit, so Scheer, habe es den Ausbau erneuerbarer Energien schneller vorangebracht als es jeder „Energie-Masterplan“ gekonnt hatte.

Drittens liefert Scheer in seinem Buch Denkansätze für eine Weiterentwicklung unserer Energieversorgung. Sie betreffen sowohl allgemeine politische Rahmenbedingungen als auch einzelne Industriezweige und Technologien. Stark macht sich Scheer unter anderem für eine stärkere Rolle der Kommunen bei der Genehmigung von Standorten, für eine Überführung der Stromnetze in die öffentliche Hand und für eine gemeinsame Planung von Verkehrs- und Energietrassen. Er plädiert für eine Umwidmung von Energie- zu Schadstoffsteuern, für weltweite Aufforstungsprogramme und für eine stärkere Förderung erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern, um diese aus ihrer „Armutsfalle“ zu holen. Gerade diese Verbindung von Ökologie, Ökonomie und Sozialem ist Scheer ein Hauptanliegen: Er warnt davor, die erneuerbaren Energien auf das Thema CO2-Emissionen zu reduzieren. Mindestens ebenso wichtig sind für ihn die ungeheuren Produktivkräfte, die der Umbau auf eine dezentrale, erneuerbare Energieversorgung in einer Gesellschaft entfalten kann.

Zu einer Art „Blaupause für unsere Energiezukunft“ ergänzen sich diese Denkansätze indessen nicht – das wäre auch unglaubwürdig, nachdem Scheer jeglicher zentralistischen Planung stets eine Absage erteilt hat. Dennoch wird spürbar, dass Scheers Stärken eher bei allgemeinen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen liegen als im Detail: Über die Neuerungen in der europäischen Gebäuderichtlinie zeigt er sich schlecht informiert, und viele seiner Vorschläge bleiben im Vagen. So regt er zwar an, den „Agenda 21-Prozess“ der 90er-Jahre mit seinen vielen, lokalen Einzelinitiativen wieder aufleben zu lassen, macht aber keine Aussagen, wie dieser auf eine dauerhaftere Basis gestellt werden soll. Und auch der Vorschlag, ein anderes Relikt der 90er – den CargoLifter – zu reaktivieren, wirkt fast schon nostalgisch.

Dennoch überzeugt „Der energethische Imperativ“ (beinahe) auf ganzer Linie – auch weil Scheer hier noch präziser, gründlicher, besser strukturiert und sprachlich gewandter argumentiert als in den meisten seiner vorigen Bücher. Zudem macht sich ein Wandel in seinem Diskurs bemerkbar: In diesem Buch schreibt nicht mehr einer, der die Welt noch von den Erneuerbaren Energien überzeugen müsste, sondern jemand, der bereits erreichte Erfolge verteidigen will. Die Widerstände, gegen die Scheer mit diesem Buch ankämpft , sind subtiler geworden – und dieser Subtilität hat er sich selbst angepasst, ohne dabei an Klarheit zu verlieren. Scheer setzt auf Fakten und Argumente, macht immer wieder verborgene Zusammenhänge deutlich und weist auf zahlreiche Aspekte hin, die in der Energiedebatte vernachlässigt werden. Sein Buch schärft so den Blick für die Zukunft der erneuerbaren Energien und für die dort lauernden Konflikte – und das ist bei diesem Thema, das derzeit von so viel Unwissen und gezielter Desinformation verunklärt wird, schon ungemein viel wert.


Der energethische Imperativ. Autor: Hermann Scheer. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. 224 S., ISBN 978-3888976834, 19,90 €.
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