11.12.2012 Linder@detail.de

Die Freiheit, Passivhäuser zu bauen: Kunstmuseum in Ravensburg

Am 8. März 2013 wurde in Ravensburg das weltweit erste Passivhaus-Museum nach Entwürfen der Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei (Stuttgart) eröffnet.  Der Neubau belegt, dass die Zeiten lange vorbei sind, da Passivhäuser noch mit „Verzichtsästhetik“ gleichgesetzt wurden. Architekten: Lederer Ragnarsdóttir Oei, Stuttgart
Ort: Burgstraße 9, D-88212 Ravensburg
Dreiecksbeziehungen sind bekanntlich oft konfliktträchtig. Das neue Kunstmuseum in Ravensburg ist hingegen – glaubt man den Beteiligten – das Ergebnis einer überaus harmonischen Vierecksbeziehung. Eckpunkte dieses Vierecks waren die Stadt Ravensburg, eine Kunstsammlerin, ein Bauunternehmer aus der Region, der zugleich als Investor fungiert, und – als einzige „Externe“ – die Stuttgarter Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei. Der Bauunternehmer Georg Reisch hat den Neubau im Auftrag der Stadt errichtet und vermietet ihn den Ravensburgern nun für 30 Jahre. Hauptinhalt des Museums ist die Kunstsammlung von Gudrun Selinka und ihres 2006 verstorbenen Ehemanns Peter, die vor allem Werke des deutschen Expressionismus und der Künstlergruppe COBRA aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg umfasst. Die Architekten wiederum lieferten dieser Sammlung eine Behausung, die sich so selbstverständlich in den mittelalterlichen Stadtkern einfügt, als hätte hier nie etwas anderes gestanden. Trotz aller Vertrautheit galten für den Neubau höchste Anforderungen an die Energieeffizienz: Als erstes Museum weltweit erreicht das neue Kunstmuseum den Passivhausstandard. Die Initiative hierzu hatte der Investor ergriffen. Die Stadt ließ sich von seinem Vorhaben rasch überzeugen, hoffte sie doch auf deutlich geringere Betriebskosten als bei einem Standardgebäude. Schließlich bedeutet der Museumsbetrieb für den Stadthaushalt – trotz Passivhausstandard – immer noch eine Zusatzbelastung von jährlich 240.000 Euro. Die Mehrkosten für das Erreichen des Passivhausstandards taxiert das Unternehmen Georg Reisch auf etwa acht bis zehn Prozent der Bausumme.

Foto: Wynrich Zlomke

Neu und doch vertraut Das Kunstmuseum steht am Südrand der Altstadt; gleich auf der gegenüberliegenden Seite steigt das Gelände steil zum Burgberg der Veitsburg an. Bisher gehörte der Standort eher zu den weniger frequentierten Winkeln im Stadtzentrum, doch dies dürfte sich rasch ändern: Im Umkreis von rund 100 Metern um den Neubau wurde  in den vergangenen vier Jahren ein „Museumsquartier“ mit stadthistorischem Museum, Wirtschaftsmuseum und Spielzeugmuseum errichtet. Das Kunstmuseum ergänzt den Museumsstandort nun als letzter und größter Baustein (und einziger Neubau) zum Quartett.

Lageplan

Der Museumsneubau lebt aus der Spannung zwischen Altvertrautem und subtilen Überraschungseffekten. Wären da nicht die noch glänzenden Kupferbleche an Fensterrahmen und Regenwasserkanälen, so wüsste man ihn nicht sofort in ein bestimmtes Jahrzehnt einzuordnen. Das Fassadenmaterial – 200 Jahre alte Abbruchziegel aus einem belgischen Kloster – wirkt vom ersten Tag an zeitlos. Der minimale Eingangshof mit seinem „Fenster“ aus schräg gestellten Glaslamellen zur Straße hingegen ist klar ein Kind des 21. Jahrhunderts. Von Süden erinnert der hoch aufragende, geschlossene Museumsbau an ein Lagerhaus, das sich von der Ostsee nach Oberschwaben verirrt hat. Doch selbst dieses Bild wird wieder gebrochen – in diesem Fall durch den wellenförmigen Rand des Tonnendachs am oberen Fassadenabschluss, von dem später noch die Rede sein wird.  Stringentes Konzept auf engem Grundstück Mit 800 Quadratmetern Ausstellungsfläche zählt das Kunstmuseum zu den kleineren Museen im Land. (Zum Vergleich: Das Museum Brandhorst in München, gleichfalls ein öffentlich finanziertes Sammlermuseum, hat die vierfache Fläche.)  Sie teilt sich auf drei Ebenen auf: Im Erdgeschoss stehen 200 Quadratmeter für Sonderformate zur Verfügung – darunter eine Art „Artist in Residence“-Programm, bei dem externe, eingeladene Künstler einen Blick auf Ravensburg werfen sollen. Im erste Obergeschoss werden auf 300 Quadratmetern wechselnde Auszüge aus der Sammlung Selinka gezeigt, und das zweite Obergeschoss, ebenfalls 300 Quadratmeter groß, soll Wechselausstellungen beherbergen.

Ansicht aus Süden vom Burgberg / Foto: Roland Halbe

Den Architekten gebührt Anerkennung dafür, dass sie trotz der schwierigen Rahmenbedingungen – das Grundstück ist komplett überbaut; die Straße, an der es steht, hat bis zu 10% Steigung – ein überaus stringentes Raum- und Erschließungskonzept entwickelten. Sie schrieben dem polygonalen Grundstück das größtmögliche Rechteck ein und stapelten es dreimal übereinander – mit Ausnahme des Erdgeschosses, wo die Fassade des Raums für Museumspädagogik leicht angeschrägt ist, um dem Straßenverlauf zu folgen. Die noch verbleibenden Restflächen wurden für die beiden Treppenhäuser, den Aufzugsschacht und den minimalen Eingangshof genutzt. WCs, Lagerflächen und Verwaltung befinden sich im Untergeschoss.

Grundriss 2. Obergeschoss

Grundriss Erdgeschoss

Der Abschied vom „White Cube“ Erschlossen wird das Gebäude nicht – wie es bei einem solchen Gebäude instinktiv zu erwarten wäre – von der Straßenecke aus, sondern am höchsten Punkt des Grundstücks. Auch im Inneren hält das Raumkonzept trotz aller Einfachheit einige Überraschungen bereit. Allen voran im Saal im zweiten Obergeschoss, wo dem Besucher unvermittelt eine Gewölbedecke aus konisch geformten, gegensinnig ineinander gesteckten Ziegelkappen entgegentritt. Ihr Horizontalschub hebt sich wie bei einem Faltwerk gegenseitig auf; die Vertikallasten werden an den Graten durch Doppel-T-Träger aus Stahl in die beiden Längswände abgetragen. Dieser Raum ist ein Affront gegen die zuletzt fast dogmenhaft vertretene Ansicht im Museumsbau, der Raum müsse gegenüber der Kunst völlig zurücktreten und sich auf den neutralen „White Cube“ reduzieren. Arno Lederer verweist demgegenüber auf die Entstehungsgeschichte der meisten Kunstwerke, die ja auch aus farbbespritzten, unaufgeräumten Künstlerateliers stammten und daher in einem klinischen Ambiente fehl am Platz seien.

Ausstellungsraum im 2. Obergeschoss / Foto: Wynrich Zlomke

Vertrauen bis ins Detail Offenherzig benennt Lederer die Vorbilder, die ihn bei seinem Entwurf - und manch anderem Entwurf zuvor - geleitet haben: Hans Döllgast für die Haltung gegenüber der Stadt, Sigurd Lewerentz für die Ziegelgewölbe, Le Corbusier für die voluminösen Wasserspeier am Dachrand (die freilich nur als Notentwässerung dienen) und Carlo Scarpa für eine schwarze, von oben natürlich belichtete Wandnische direkt hinter dem Kassentresen.  Der Tresen besteht  - ebenso wie das Regal an der Foyerwand schräg gegenüber und ein Waschbecken im Museumspädagogik-Raum - aus Sichtbeton und ist untrennbar mit dem Rohbau verbunden. Auch bei der Auswahl der Foyerbestuhlung (für Veranstaltungen) vertrauten die Bauherren auf die Gestaltungskompetenz ihres Architekten. Lederer revanchiert sich, indem er die gute Zusammenarbeit lobt und den Bauherrn gar als "Idealfall eines Investors" preist. Man hat nicht das Gefühl, als seien dies nur warme, aber inhaltsleere Worte.

Den Blick nach innen gewendet "Innen ist anders als außen" überschrieben Lederer Ragnarsdóttir Oei vor Jahren einmal eine Ausstellung ihrer Werke; und die gleiche Haltung legen sie auch in Ravensburg an den Tag.  Die Innenräume sind nicht nur arm an Fenstern; sie geben sich geradezu (tages)lichtscheu, selbst an Stellen, wo dies aus konservatorischen Gründen gar nicht erforderlich gewesen wäre. Im Grunde hat der Besucher nur an zwei Stellen die Gelegenheit, den Blick von der Kunstbetrachtung ab- und in die Ferne schweifen zu lassen: Aus dem Museumspädagogik-Raum öffnet sich ein großes Quadratfenster auf die Gasse hinaus, und vom obersten Treppenabsatz gibt ein Fenster den gerahmten Blick auf den gegenüberliegenden Burgberg frei.

Foyer mit Tresen, schwarzer Nische und Wandregal aus Beton / Foto: Roland Halbe

Die künstliche Museumsbeleuchtung oszilliert zwischen dezenter Zurückhaltung und Aufdringlichkeit. In den Treppenhäusern ergänzen flächige, wandintegrierte LED-Leuchten mit Mattglasabdeckung die Tageslichtbeleuchtung. Hinzu kommen dezente LED-„Lichtfugen“ in den Fensterlaibungen, unmittelbar hinter den Blendrahmen. Deutlich weniger zurückhaltend sind die kreuzförmigen Deckenleuchten im Raum für die Museumspädagogik und vor allem die groß geratenen „Lichtschaufeln“ an den Wänden des zweiten Obergeschosses, die die Tonnengewölbe in Szene setzen sollen.

Ein Passivhaus fast ohne solare Gewinne
In dem Architektenwettbewerb für den Museumsneubau, den Lederer Ragnarsdóttir Oei 2009 gewannen, war der Passivhausstandard noch kein Thema. Dennoch mussten die Architekten ihren Entwurf nicht maßgeblich zugunsten von mehr Effizienz modifizieren – im Gegenteil: „Wir haben ihn – für ein Passivhaus – eher noch schlechter gemacht“, sagt Arno Lederer. Ein ursprünglich geplantes, großes Fenster im obersten Ausstellungssaal wurde nach dem Wettbewerb wieder gestrichen. Es hätte zwar solare Gewinne, aber auch das für Museumskonservatoren stets problematische Tageslicht in die Ausstellung gebracht.

Blick aus dem Foyer in den Raum für die Museumspädagogik: Foto: Wynrich Zlomke

Wandintegrierte Beleuchtung im Fluchttreppenhaus / Foto: Wynrich Zlomke

Unter der Oberfläche jedoch erforderte der Passivhausstandard viel Fleißarbeit an Details und viel „Hin- und Herrechnen“. Dabei stellte sich vor allem heraus, dass eine kompakte, gut gedämmte „Kiste“ für ein Passivhaus nur die halbe Miete ist. Ebenso wichtig sind solare Wärmegewinne, die hier aufgrund der wenigen Fenster fast völlig fehlen. Wärme bringen nun vor allem die erwarteten 25.000 Besucher pro Jahr ins Haus – allerdings auch im Hochsommer, wenn das Gebäude viel eher Kühlung bräuchte.

Nachhaltigkeit auch in der Materialwahl Die zweischaligen Außenwände (innen Beton, außen Abbruchklinker) erhielten eine 24 cm starke Mineralwolldämmung. Zusammen mit dem Hinterlüftungsspalt macht dies einen Schalenabstand von 30 Zentimetern bei einer Wandhöhe von insgesamt 17 Metern. Die Maueranker hatten somit Höchstleistungen in puncto Stabilität zu erbringen und sollten doch nur so wenig wie möglich als Wärmebrücken wirken. Letztlich gelang es den Planern, diesen Spagat mit einem neu entwickelten Anker mit verringertem Stahlanteil zu bewältigen. Ebenfalls neu entwickelt – und eigens vom Passivhaus Institut zertifiziert – wurde die mit Kupfer verkleidete Drehtür am Eingang. Arno Lederer will das Thema Nachhaltigkeit jedoch nicht auf den Energieaspekt reduziert sehen. „Weg von der Produktionsgesellschaft und hin zu einer Verwertungsgesellschaft“ lautet sein Credo. Die Idee, den Neubau mit Abbruchziegeln zu verkleiden, stammte von den Architekten, die auch das Material selbst beschafften. Über entsprechende Bezugsquellen verfügen Lederer Ragnarsdóttir Oei von zwei vergangenen Bauprojekten, die mit ähnlichen Ziegeln verkleidet wurden.  Auffällig ist auch, welche Materialien im Gebäude nicht zu sehen sind. Auf Anstriche und Beschichtungen wurde weitgehend verzichtet, statt Aluminium kam wo immer möglich Kupfer zum Einsatz und selbst hinter dem Eingang liegt nicht etwa eine Eingangsmatte aus Kunstfaser, sondern ein bodenintegrierter Gitterrost aus (noch) glänzendem Kupfer. Ein weiteres, auffallendes Detail: die fassadenintegrierten, offenen und überaus breiten Regenwasserkanäle aus Kupfer, die die sonst üblichen geschlossenen Regenfallrohre ersetzen.

Wärme und Kälte aus der Tiefe Bei der Haustechnik profitierte die Umsetzung des Passivhausstandards davon, dass viele für eine hohe Effizienz erforderliche Installationen aus konservatorischen Gründen ohnehin erforderlich waren. In den Ausstellungsräumen müssen ganzjährig eng umgrenzte Sollwerte (20°C Raumlufttemperatur und 50% +/- 5% Luftfeuchtigkeit) eingehalten werden. Das Haus verfügt daher über eine Lüftungsanlage mit Wärme- und Feuchterückgewinnung, deren Luftmenge über Volumenstromregler nach Bedarf geregelt wird. Um Zuglufterscheinungen zu vermeiden, wurde in den Räumen eine Quelllüftung realisiert. Die Luft wird im Sockelbereich in die Räume eingeblasen und an den abgehängten Decken wieder abgesaugt. In zweiten Obergeschoss, wo dies aufgrund des Ziegelgewölbes nicht möglich war, sind die Absaugöffnungen unsichtbar hinter den Wandleuchten versteckt.

Ansicht von Süden / Foto: Roland Halbe

Geheizt und gekühlt wird das Gebäude über eine Betonkerntemperierung der 40 cm starken Decken, die an eine Wärmepumpe und acht je 100 Meter tiefe Geothermie-Erdsonden angebunden ist. Anders, als sonst gebräuchlich, wurde im Gebäude keine Elektro-Wärmepumpe, sondern eine Gas-Absorptionswärmepumpe installiert, die reversibel ist und daher im Sommer (als Absorptionskältemaschine) auch zum Kühlen herangezogen werden kann.  Die Grundlast beim Heizen und Kühlen deckt in jedem Fall die Betonkernaktivierung, die im Normalfall mit einer Vorlauftemperatur von 22°C betrieben wird. Sie wirkt somit auch ohne Temperaturänderung im Winter als sanfte Raumheizung und im Sommer als Kühlung. Um Spitzenlasten abzudecken, kann überdies die Zuluft mittels der Wärmepumpe beheizt oder gekühlt werden. Projektbeteiligte, Daten und Fakten: Bauherr: Reisch Bau GbR, Bad Saulgau
Projektleiterin: Katja Pütter
Energiekonzept / Heizung / Lüftung / Klimatechnik: Herz und Lang, Schongau; Vogt und Feist, Ravensburg
Statik: Ingenieurbüro Schneider & Partner, Ravensburg
Elektroplanung: Sulzer GmbH & Co. KG, Vogt

Bauzeit: 2010 bis 2012
Spatenstich: 21.09.2010
Richtfest: 10.05.2012
BGF: 1.900 m²
BRI: 8.300 m³

Schema der Energieflüsse (rot: Wärme; hellblau: Kälte; magenta: Zuluft; gelb: Abluft: grün: Frischluft; braun: Fortluft)

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