08.09.2014 Jakob Schoof

Endspurt am Belvedere: Wiens neuer Hauptbahnhof

Er ist Österreichs derzeit prominenteste Baustelle - und mit Sicherheit eine der größten: Im neuen Wiener Hauptbahnhof sollen Mitte Dezember die ersten Fernzüge halten; das Shoppingzentrum in der Bahnhofshalle soll schon im Oktober eröffnet werden. Die Baukosten: rund eine Milliarde Euro.

Ansicht des Bahnhofsareals vom Aussichtsturm »Bahnorama« aus. Foto: Roman Boensch

Die gute Nachricht vorab: Wenn zum internationalen Fahrplanwechsel am 14. Dezember 2014 die ersten Fernzüge in Richtung Ungarn und Südosteuropa im neuen Wiener Hauptbahnhof halten, wird sich die Kostenüberschreitung voraussichtlich im überschaubaren Rahmen bewegen. Ende 2006 schätzte die Stadt Wien die Gesamtkosten auf 850 Millionen Euro; derzeit liegen die Schätzungen bei knapp über einer Milliarde. Es ist also kein „österreichisches Stuttgart 21“ , das derzeit südöstlich der Wiener Innenstadt seiner Fertigstellung entgegengeht – selbst wenn die Planungs- und Bauzeit auch hier zwei Jahrzehnte dauerte. 1995 gewannen Theo Hotz Architekten und Planer ein erstes Expertenverfahren für den Neubau eines Hauptbahnhofs. Auch wenn die damaligen Pläne längst obsolet sind, ist das Züricher Büro ist nach wie vor Teil der Architektengemeinschaft Hoffmann/Hotz - Wimmer, die für die Gestaltung der Bahnhofshalle und der Bahnsteige verantwortlich zeichnet.

Lageplan mit den Neubauten in Weiß: Im Norden des Hauptbahnhofs schließt sich ein Büroquartier an, im Süden und Südosten entsteht das neue „Sonnwendviertel“. Foto: ÖBB

Das „Bahnorama“ – Europas höchster Holzturm
Den besten Überblick über das, was derzeit zwischen den beiden Wiener Stadtquartieren Belvedere und Favoriten entsteht, hat man vom 45 Meter hohen Aussichtsdeck des „Bahnorama“, eines mit Stahlteilen verstärkten Holzturms von RAHM Architekten, der noch bis zum endgültigen Abschluss aller Bauaufgaben 2015 auf seinem Standort westlich des neuen Bahnhofsgebäudes verbleiben soll.

»Bahnorama« am neuen Wiener Hauptbahnhof. Foto: ÖBB

Nach Angaben der Planer ist er der höchste begehbare Holzturm in Europa: von der Basis bis zur Spitze 66 Meter hoch und aus vier vorgefertigten Modulen zusammenmontiert, die auf der Baustelle von einem Kran in Position gehoben worden. Rund 150 Tonnen Fichtenholz wurden darin insgesamt verbaut.

Foto: ÖBB

Der Aussichtsturm während der Bauphase. Das 66 Meter hohe Bauwerk wurde aus vier großformatigen, vorgefertigten Elementen zusammengesetzt. Foto: ÖBB

Aus zwei mach eins
Der neue Hauptbahnhof ersetzt den ehemaligen Wiener Süd- und Ostbahnhof, einen europaweit ziemlich einzigartigen Komplex aus zwei über Eck angeordneten Kopfbahnhöfen, von denen der eine den Süden und der andere den Osten des Landes an die Hauptstadt anband. Der Hauptbahnhof ist stattdessen als Durchgangsbahnhof konzipiert und soll mehr Züge pro Tag auf deutlich weniger Fläche abfertigen können. Statt  den ehemals 18 Gleisen des Südbahnhofs hat der Neubau nur deren zehn plus zwei Durchgangsgleise für den Güterverkehr.

Schnittdarstellung des Hauptbahnhofs mit U- und S-Bahnstation (links; unterirdisch), Parkgarage (rechts) und der zweigeschossigen Bahnhofshalle, Foto: ÖBB

Unterhalb der Gleisebene wird in rund einem Monat ein 20.000 Quadratmeter großes Laden- und Dienstleistungszentrum seine Tore öffnen. Nochmals eine Ebene tiefer ist eine Tiefgarage für 600 Autos entstanden; außerdem gibt es drei Fahrradgaragen mit rund 1100 Stellplätzen.

59 Hektar Fläche für Investoren und sozialen Wohnungsbau
Das Areal rund um den Bahnhof wird auf rund 59 Hektar neu gestaltet – so groß war der Flächengewinn durch das hier realisierte Baukonzept nach dem Motto „Aus zwei mach eins“. Neben den eigentlichen, ehemaligen Bahnhofsgebäuden aus der Nachkriegszeit sind vor allem Gleisflächen entfallen, die nun zum Eldorado für Investoren wurden. Nördlich des Hauptbahnhofs auf der Innenstadtseite – also dort, wo einst die beiden Kopfbahnhöfe standen – geht derzeit der neue Hauptsitz der Erste Group Bank AG (Henke Schreieck Architekten) seiner Fertigstellung entgegen. Die mäandrierenden, mit einer gläsernen Doppelfassade versehenen Baukörper sollen auf fast 120.000 Quadratmetern rund 4000 Mitarbeiter fassen. Auf der Brachfläche südlich davon, noch näher am Bahnhof, sind weitere Büro- und Wohngebäude geplant.

Luftbild mit Blick vom Hauptbahnhof Richtung Stadtzentrum. Unten am Bildrand der „Erste Campus“ (Henke Schreieck Architekten), rechts darüber die Grünanlagen des Belvedere. Foto: Luftbild Redl

Vor dem Südausgang des Hauptbahnhofs haben die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) nach Plänen der Wiener Architekten Zechner & Zechner ihr eigenes Verwaltungshochhaus errichtet. Vor allem aber entsteht im Süden des Bahnhofsareals das „Sonnwendviertel“, ein neues Wohnquartier mit 5000 Wohnungen für 13.000 Menschen. Rund ein Drittel davon – 1140 geförderte und 530 frei finanzierte Wohnungen – ist bereits so gut wie fertiggestellt, der Rest soll bis 2019 folgen. Hinzu kommt ein „Bildungscampus“ aus Grund- und Mittelschule sowie Kindergarten, der zum Schuljahresbeginn am 1. September eingeweiht wurde.

Der neue Haupteingang kurz vor der Fertigstellung. Foto: Roman Boensch

Blick unter die neuen Bahnsteigdächer. Die ersten drei Gleise für Nahverkehrszüge sind bereits ab Ende 2012 in Betrieb. Foto: Roman Boensch

Die Bahnsteigdächer: dynamisch als Großform, doch schwerfällig im Detail
Der auffälligste Bestandteil des Neubaus sind zweifellos die fünf Bahnsteigüberdachungen, die sich im Westen rautenförmig auffalten und gen Osten in langen Geraden auslaufen. Sie sind rund 210 Meter lang und zwischen sechs und 15 Meter hoch und bestehen aus einem geschweißten und geschraubtem, unterseitig mit Alucobond-Platten verkleideten Raumfachwerk aus Stahl. Gestützt werden sie im Abstand von 38 Metern durch quer stehende Rahmenstützen aus Faserbetonrahmen, die ihrerseits mit Stahlblech verkleidet sind. Von Aussichtsturm gesehen, bilden die Dächer ein durchaus eindrucksvolles, dynamisches Bild, das Erinnerungen an Tarnkappenbomber oder – vielleicht näher am Thema – die Triebköpfe von Hochgeschwindigkeitszügen wachruft. Nähert man sich den Dächern jedoch, stellt sich ein etwas anderer Eindruck ein: Sie wirken schwer und in der Form bisweilen regelrecht plump – hier verlangt eindeutig die übergroße freie Spannweite zwischen den Stützen ihren Preis. Der Wettlauf zu immer größeren stützenfreien Spannweiten ist eine Modeerscheinung bei Prestigebauten, die jetzt schon über ein Jahrzehnt lang anhält. Doch nicht nur beim neuen Wiener Hauptbahnhof gilt: Weniger (Dach) wäre mehr (Stützen) gewesen – und vor allem ästhetisch befriedigender.

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