15.04.2008 Peter Popp

Frank Thiel. A Berlin Decade

Die Arbeiten von Frank Thiel sind eine einzigartige Reflexion über die Stadtlandschaft Berlins, diesen städtebaulich-geistigen Flickenteppich des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt eine Architektur des Übergangs, die Herausbildung eines neuen politischen Raums innerhalb urbaner Strukturen. Thiels eigentliches Thema ist das Unvollendete, er bevorzugt den Entstehungsprozess gegenüber dem Endresultat, verfolgt konsequent eine Ästhetik des Vergänglichen, der Veränderung.

Der Himmel über Berlin ist von einem gleich bleibenden, neutralen Grau. Ein wenig lethargisch kommentiert er das übrige Bildgeschehen, das von Baukränen dominiert wird. Sie stehen für Aufbruch und Veränderung. Leuchtende Ausrufezeichen des Möglichen von gestern in einer auf den steinernen Block fixierten Stadtpolitik. »Stadt 2/38 (Berlin), 1999« heißt eines von 131 hervorragend reproduzierten Berlin-Bildern des Fotografen Frank Thiel. Sie zeigen die Stadt als anonym verhandelten Gesamtorganismus im Zustand des Übergangs. Bauliche Körper, noch oder bereits wieder namenlos, kühl und präzise ins Bild gesetzt.
Auf den zweiten Blick folgt Irritation. Diese Stadt ist so gut wie menschenleer. Hier wird nicht gearbeitet, jedenfalls nicht von Menschenhand. Hier arbeitet nur die Zeit. Es ist ein faszinierender Schwebezustand, den diese Bilder erzeugen. Der Aufbruch, den sie vordergründig thematisieren, wird allerorten überlagert durch Stillstand oder Niedergang. Zersprungene Fensterscheiben, bröckelnder Putz, rostige Bauruinen. Hier geht nichts voran, hier geht etwas vorbei, überwältigend in Szene gesetzt, von einem aufmerksamen Blick, der die Dinge messerscharf seziert und als von Menschen gemacht ausweist. Gerade deren vollständige Abwesenheit macht dies eindrücklich bewusst.
Ein einziges Mal kann man der Arbeit wirklich zusehen. Es ist wie ein unmerklicher Riss, der die homogene Wolkendecke durchschneidet. Der Arm eines Abbruchgerätes greift nach dem losen Ende eines Betonskeletts. Das bewegte Objekt als bewusst gesetzte Unschärfe. »Stadt 5/23/C (Berlin), 2001«: Ein Bild, wie das Erwachen aus einem zehnjährigen Dornröschenschlaf und ein subtiles Bekenntnis zur Theorie des »Werdens« von Gilles Deleuze: »Die Stärke der Fotografie besteht nicht darin, dass sie die Zeit anhält, sondern darin, dass die Zeit fort-schreitet.«
Peter Popp
Hatje Cantz, Ostfildern 2006 ISBN 978-3-7757-1864-6, 260 Seiten, Text: deutsch, englisch, ? 49,80

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