26.01.2014 Jakob Schoof

Gebaute Ausblicke: Ausstellung „Luginsland“ in Basel

Trollstigen von Reiulf Ramstad Arkitekter, Norwegen, 2012. Foto: diephotodesigner.de

Top of Tyrol von LAAC, Stubaier Gletscher, Österreich, 2009. Foto: LAAC

Den Traum vom Turm träumt die Menschheit vermutlich, seit es die ersten städtischen Ansiedlungen gibt. Die Architekturgeschichte kennt Wehrtürme, Signaltürme und Herrschaftstürme seit der Zeit der ersten Hochkulturen. Die ersten Aussichtstürme im heutigen Sinn – zweckfreie Freizeitbauten ohne eigentliche militärische oder repräsentative Bestimmung – kamen erst in der Renaissance auf. Als wegweisend (und für die Gattung namensgebend) gilt hier vor allem das Casino del Belvedere im Vatikan aus dem späten 15. Jahrhundert.

Es folgte die Zeit der Barock- und Landschaftsparks mit ihren „Follies“, unter denen ebenfalls zahlreiche der Aussicht gewidmete Bauten waren. Das 19. Jahrhundert, schreibt Museumsdirektor Hubertus Adam im Katalog zur Ausstellung „Luginsland“, sei regelecht blickfixiert gewesen: Der moderne Tourismus entstand, und das Kaiserreich machte Aussichtstürme und -plattformen zu Symbolen des Nationalstolzes. Davon zeugen unter anderem das Völkerschlachtendenkmal bei Leipzig und vor allem die mehr als 50 Bismarcktürme, die um die Wende zum 20. Jahrhunderts überall im Deutschen Reich entstanden.
Die Ausstellung als Architekturbiotop
Die Basler Ausstellung streift diese Vorgeschichte kurz (anhand historischer Postkarten) in ihrem ersten Raum, bevor sie die Aussichtsbauten der heutigen Zeit in den Blick nimmt. Rund 25 Türme, Plattfomen, Stege, Bergrestaurants und Aussichtspavillons sind im Schweizer Architekturmuseum zu sehen. Die Ausstellungsarchitektur (von Holzer Kobler Architekturen aus Zürich) thematisiert selbst eine der zeitgenössischen Zweckbestimmungen dieser Bauten: die Naturbeobachtung. Wie in einem Feuchtbiotop bewegen sich die Besucher auf Holzstegen über „Tümpel“ aus Fotografien der ausgestellten Gebäude. Deren Modelle sind auf Plattformen ausgestellt, die aus den Wasserbecken herausragen. An den Enden des Ausstellungssaals haben die Architekten drei Hochsitze mit Leitern errichten lassen; die Exponatbeschriftungen sind wie in botanischen Gärten auf Blechtafeln angebracht.

Ausstellungsarchitektur im S AM

„Architektur mit Aussicht“ von Norwegen bis Mexiko
Zwei touristische Initiativen sind in der Ausstellung gleich mit mehreren Projekten vertreten: die von den Norwegischen Touristenrouten initiierte Serie von Aussichtspunkten, Schutzhütten und Pavillons an den dortigen Fjordküsten und in den Nationalparks sowie die „Ruta del Peregrino“ im mexikanischen Bundesstaat Jalisco, wo internationale Architekten entlang eines knapp 120 km langen Pilgerwegs fünfzehn Türme, Plattformen, Unterstände und Servicebauten errichtet haben.

Ganz anders ist es hingegen um die Präsenz von Bauten aus der Schweiz bestellt. Ganze fünf davon präsentiert die Ausstellung. Das erstaunt zumindest den unbedarften Rezensenten, der den „Blick ins Land“ eigentlich als eidgenössisches Thema par excellence eingeschätzt hätte. Die Gründe hierfür lässt die Ausstellung im Dunkeln, so dass sich nur spekulieren lässt. Ist womöglich im Geburtsland des Alpintourismus bereits jede Anhöhe von entsprechenden Bauten besetzt, so dass jetzt erst einmal andere Regionen Nachholbedarf haben?

Lookout Point von HHF Architekten, Ruta del Peregrino, Espinazo del Diablo, Mexiko, 2010. Foto: Iwan Baan

Eines macht „Luginsland“ hingegen deutlich: Der Begriff der Höhe ist bei den zeitgenössischen Aussichtsbauten relativ. Der (bisher unrealisierte) „Observation Tower“ in Phoenix/Arizona von BIG ist mit mehr als 160 Metern Höhe ein Exot in dieser Architekturschau. Die meisten anderen Türme und Plattformen ragen nur so weit als eben nötig über ihr Umfeld hinaus und dienen oft eher dazu, Nahes als Fernes zu beobachten. Das gilt für den Steg auf dem „Metropol Parasol“ von Jürgen Mayer H. ebenso wie für einen nur von Wissenschaftlern benutzten Beobachtungsturm im Pfälzer Wald (Kirchspitz Architekten + Ingenieure). Auch der von Atelier Bow-wow 2009 für das „Höhenrausch“-Festival in Linz errichtete Holzsteg über den Dächern der Stadt fällt in diese Kategorie. Manche Bauten sind sogar regelrecht introspektiv statt auf Aussicht angelegt. Zu ihnen gehört der „Mirador“ von Christ & Gantenbein an der Ruta del Peregrino, eine rund 35 Meter hohe, begehbare und nach oben offene Betonröhre, deren Grundriss entfernt an eine Alvar-Aalto-Vase erinnert.
Viel Spielerei und wenig Ingenieurkunst
Eine weitere Erkenntnis bringt die Ausstellung: Gewagte, filigrane Ingenieurkonstruktionen sind vergleichsweise rar in der Ausstellung. Dies ist sicher auch ein Zeichen unser Zeit, da verspielt-zeichenhafte Formgebung bei Auftraggebern und (manchen) Architekten mitunter eher gefragt ist als konstruktive Vernunft. Zwei besonders prägnante (allerdings beide von Künstlern geschaffene) Beispiele sind Anish Kapoors „ArcelorMittal Orbit“ zur Olympiade in London 2012 sowie die achterbahnähnliche Installation „Tiger and Turtle – Magic Mountain“ von Heike Mutter und Ulrich Genth auf einer ehemaligen Schlackenhalde im Süden von Duisburg.

Beim Thema Konstruktion beginnt es inhaltlich auch etwas dünn zu werden bei „Luginsland“. Dass Detailpläne in einer auf ein breites Publikum gemünzten Architekturausstellung bestenfalls eine Nebenrolle spielen dürften, ist klar. Die eine oder andere zusätzliche Zeichnung wäre dennoch nützlich gewesen – gerade auch im Katalog, der, abgesehen von einigen einleitenden Essays, mehr oder minder die gleichen Bilder und Texte wiedergibt die auch in der Ausstellung zu sehen waren. 

Pavillon im Wild Reindeer Centre von Snøhetta, Hjerkinn, Norwegen, 2011. Foto: Ketil Jacobson

So fällt das Fazit über „Luginsland“ letztlich gemischt aus: Eine durchaus inspirierende und (nicht zuletzt aufgrund der Ausstellungsarchitektur) sehenswerte Ausstellung zu einem in den Fachmedien derzeit noch unterbelichteten Thema – aber eben auch nichts, was einen wirklich tief in die Materie eintauchen ließe.
Zweifellos erleben Ausstellungsbauten derzeit eine Renaissance – oder zumindest wandeln sie sich von reinen Zweckarchitekturen zu einer Gestaltungsaufgabe für Architekten und Künstler. Die Gründe dieses Phänomens erläutert die Ausstellung nur ganz am Rande: Der einleitende Text nennt das unter ökologischen Vorzeichen neu erwachte Interesse an der Natur (das sich zum Beispiel in den zahlreichen Baumkronenpfaden manifestiert), die Eroberung neuer Freiflächen und Perspektiven in der Stadt (denken wir an die New Yorker High Line), aber auch den ungebrochenen Einfluss des Tourismus. Der Gebrauch der Alpen als „Sportgerät“ etwa (so Ausstellungsarchitektin Barbara Holzer) hat dort seit der Jahrtausendwende eine neue Generation von Aussichtsplattformen und -röhren sowie Berghütten und -restaurants entstehen lassen.

Reussdeltaturm von Gion A. Caminada, Seedorf, Uri, Schweiz, 2012. Foto: Lucia Degonda

Orbit von Anish Kapoor Studio, Cecil Balmond, Olympiapark, London, 2012. Foto: Arcelor Mittal

Magic Mountain von Heike Mutter und Ulrich Genth, Duisburg, 2011. Foto: Heike Mutter und Ulrich Genth, © VG Bild-Kunst

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Top of Tirol - neue Wildspitzbahn

Wie viel Architektur verträgt die Natur? Architektur-Gesellschaft, die ACHTE Luginsland. Architektur mit Aussicht (weitere Bilder & Begleitprogramm)
Aussichtstürme und -plattformen erleben seit der Jahrtausendwende eine Renaissance – und das auch an Standorten, an denen man es durchaus nicht vermuten würde. Noch bis zum 9. März widmet das Schweizer Architekturmuseum in Basel diesem Architekturtypus eine Ausstellung. Ort: SAM Schweizerisches Architekturmuseum, Steinenberg 7, CH-4001 Basel
Dauer: bis 9. März 2014

Aussichtsplattform Conn von Corinna Menn, Flims, Schweiz, 2006. Foto: Franz Rindlisbacher

Landmarke Lausitzer Seenland von Stefan Giers und Susanne Gabriel, 2008. Foto: Architektur & Landschaft, Stefan Giers

Katalog zur Ausstellung mit Projekten von Mario Botta, Christ und Gantenbein, Matteo Thun, Jürgen Mayer H., SANAA, Snøhetta, UNStudio und anderen. Luginsland. Architektur mit Aussicht / Lookout. Architecture with a View
Hubertus Adam, S AM Schweizerisches Architekturmuseum (Hg.)
112 Seiten, 22,5 x 30 cm, 157 meist farbige Abbildungen, broschiert, Deutsch/Englisch
Christoph Merian Verlag, Basel
ISBN 978-3-85616-633-5
CHF 29,00 / EUR 24,00

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