09.01.2011 Jakob Schoof

Hamburg rechnet sich sauber

Die Internationale Bauausstellung (IBA) in Hamburg verfolgt das Ziel, den Stadtteil Wilhelmsburg möglichst bald unabhängig von fossilen Energiequellen zu machen. Zukunftsszenarien und Strategien, wie dies gelingen könnte, präsentiert nun der bei Jovis erschienene „Energieatlas“ zum Zukunftskonzept Erneuerbares Wilhelmsburg.
„Die Zukunft des Klimas wird sich in den Städten entscheiden“ – diesen Leitsatz haben sich auch die Verantwortlichen der IBA Hamburg zu eigen gemacht. „Stadt im Klimawandel“ lautet eines der drei Hauptthemen der Veranstaltung. Infrastrukturprojekte wie ein „Energiebunker“ und ein „Energieberg“ sollen zur energetischen Selbstversorgung des IBA-Gebiets ebenso beitragen wie Pilotprojekte für energieeffiziente Neubauten und energetische Sanierungen.

Der „Energieatlas Zukunftskonzept Erneuerbares Wilhelmsburg“ dokumentiert nun erstmals das energetische Gesamtkonzept, das hinter den einzelnen Bauvorhaben steht. Er versucht zugleich, dieses anhand einer Vielzahl von Zahlen zu konkretisieren. Im Mittelpunkt des Buchs stehen vier Zukunftsszenarien, die darlegen, wie sich Energiebedarf und Erzeugung erneuerbarer Energien in den einzelnen Teilgebieten von Wilhelmsburg künftig entwickeln könnten.

Eine wichtige Erkenntnis aus den Szenarien lautet: Die Entscheidung, im Jahr 2010 noch ein fossiles Großkraftwerk wie Hamburg-Moorburg zu errichten oder eben nicht, wird sich erheblich auf den Zuwachs erneuerbarer Energien bis 2050 auswirken. Die Autoren werden daher nicht müde zu betonen, dass der Systemwechsel hin zu „Erneuerbaren“ schon jetzt konsequent vollzogen und nicht durch „pro-fossile“ Weichenstellungen in der Energiepolitik konterkariert werden darf.

Bleiben diese aus, ist es den Szenarien zufolge bis 2050 durchaus möglich, Wilhelmsburg zum 100%-igen „Selbstversorger“ in Sachen Elektrizität zu machen und überdies noch Strom zu exportieren. Weitaus schwieriger gestaltet sich hingegen die Wärmeversorgung: In keinem der Szenarien kann Hamburg-Wilhelmsburg bis 2050 vollständig mit erneuerbarer Wärme versorgt werden – selbst dann nicht, wenn bis dahin auf dem Areal mehrere Tiefengeothermie-Kraftwerke errichtet werden.

Energieszenarien wurden gerade in den vergangenen Jahren weltweit in großer Zahl publiziert. Meist basieren sie auf groben Verallgemeinerungen und beziehen sich auf den globalen oder nationalen Rahmen. Der wesentliche Wert des „Energieatlas“ liegt nun darin, dass er dieses Werkzeug auf den lokalen Maßstab anwendet und dabei ziemlich detailliert vorgeht: Die Autoren unterteilen Wilhelmsburg in Einzelgebiete, von denen viele kaum größer sind als ein Straßenblock, und ordnen diese wiederum einem von über 20 „Stadtraumtypen“ zu. Die Stadtraumtypen unterscheiden sich in ihrer Bebauungsstruktur, Nutzung und dem Gebäudealter und mithin auch hinsichtlich der Effizienzpotenziale, die sie bieten.

Dennoch beinhalten die Zukunftsszenarien große Unsicherheitsfaktoren – und blenden überdies einen wichtigen Bereich aus: den Verkehr und den Energieverbrauch, den er verursacht. Ein Manko, das im Übrigen für die gesamte IBA Hamburg gilt. Den wesentlichsten Unsicherheitsfaktor bildet jedoch vermutlich der Mensch selbst. Umso lobenswerter ist es, dass sich ein eigenes Kapitel im Energieatlas mit dem Thema „Energie und Bewusstsein“ befasst. Dokumentiert sind darin die bisherigen, eher mageren Ergebnisse des Versuchs, die Bewohner Wilhelmsburgs zur energetischen Sanierung ihrer Gebäude zu bewegen. Der Beitrag bestätigt viele Vorurteile über das Umweltbewusstsein der Deutschen: Alle reden vom Klima, aber kaum einer tut wirklich etwas dafür – schon gar nicht, wenn es teuer wird und die eigenen ökonomischen Mittel beschränkt sind.

Deutlich wird hier aber auch, dass finanzielle Anreize zur Gebäudesanierung speziell bei Einfamilienhausbesitzern längst nicht alles sind: Die Menschen fühlen sich noch immer schlecht informiert, sie zeigen oft mangelhaftes Vertrauen in Energieberater, und ihnen fehlen die lebenspraktischen Vorbilder für den Klimaschutz. Viel mehr als bisher, so die Autoren, ließe sich im Klimaschutz erreichen, wenn kommunaler Klimaschutz wirklich als Gemeinschaftsanliegen aufgefasst würde und ein „Wir-Gefühl“ unter den Bewohnern vorangebracht werden könnte. Dieser Aspekt, der in den ersten „Ökodörfern“ der Idealisten noch überaus präsent war, ist in unserer ökonomisch-rational denkenden Gesellschaft inzwischen in Vergessenheit geraten. Es wird womöglich Zeit, ihn wiederzuentdecken.

Die im Energieatlas vorgestellten Zukunftsszenarien reichen weit über den eigentlichen Zeithorizont der IBA Hamburg – die 2013 zu Ende sein wird – hinaus. Die IBA selbst wird zu ihrer Umsetzung nicht viel mehr als Denkanstöße und erste gebaute Pilotprojekte liefern können. Was dann folgt, wird vor allem in der Hand der Hamburger Stadtpolitiker und der sie wählenden Bürger liegen. Dennoch stehen die Chancen gut, dass sich Hamburg-Wilhelmsburg 2013 zu einem Pilgerort für Freunde energieeffizienten Bauens entwickeln wird: Zahlreiche zukunftsweisende Einzelprojekte (die der „Energieatlas“ gleichfalls in Kurzform vorstellt) stecken schon in den Startlöchern oder wurden in Einzelfällen bereits realisiert.

Energieatlas „Zukunftskonzept Erneuerbares Wilhelmsburg“
Herausgeber: IBA Hamburg. Jovis Verlag, Hamburg 2010. 224 Seiten mit ca. 300 Abbildungen. 29,80 Euro. ISBN 978-3-86859-076-0.
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