12.08.2016 Jakob Schoof

Kalkulierte Formlosigkeit: Forschungsgebäude NEST in Dübendorf

Foto: Roman Keller

Sie sind bis heute jedem Architekturstudenten geläufig: die Stadtvisionen der 60er- bis 80er-Jahre von Archigram (Plug-In City), Constant Nieuwenhuys (New Babylon) und der japanischen Metabolisten. Ihr Prinzip war im Grunde immer das gleiche: eine zentrale Infrastruktur, die im Laufe der Jahre – sei es durch die Bewohner im Eigenbau oder mit vorgefertigten Raumkapseln – immer wieder neu »besiedelt« werden sollte. Selten genug wurden solche Konzepte umgesetzt. Wenn doch, blieb – wie bei den Nakagin Capsule Towers von Kisho Kurokawa in Tokio – der Veränderungswille der Bewohner meist deutlich hinter den Erwartungen zurück.

Das könnte beim NEST im Schweizer Dübendorf anders ausgehen. Der Neubau auf dem Areal der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt im Schweizer Dübendorf ist eine späte Wiedergeburt der 68er-Stadtideale im Kleinen. Auch hier geht es um die Trennung zwischen dauerhafter Infrastruktur und kurzlebigem Ausbau, auch hier stand der Wunsch nach maximaler Flexibilität im Vordergrund und auch hier vergleichen die Architekten Gramazio Kohler ihren Entwurf mit einer Stadt im Kleinen. Die Vielgestaltigkeit, ja Formlosigkeit des sich ständig veränderten Neubaus gehört dabei zum Konzept. Denn dieser wurde bewusst »von innen nach außen« geplant. Von einem zentralen Erschließungs- und Technikkern kragen weit gespannte Stahlbeton-Plattformen aus, auf denen sich bis zu 18 unterschiedliche Forschungsmodule platzieren lassen. Nur einige Multifunktionsräume sowie Teeküchen und Sanitärkerne sind in den Obergeschossen bereits vorhanden, der Rest der Flächen soll immer wieder neu bespielt werden.

Zwischenstation zwischen Labor und Baustelle
Der Name NEST steht für »Next Evolution in Sustainable Building Technologies«, und genau darum geht es: Bislang werden neue Bautechnologien im Labor entwickelt und müssen dann ihre Feuerprobe in realen Gebäuden bestehen. Doch Bauherren, die diese Innovationen mit all ihren »Kinderkrankheiten« wirklich einbauen wollen, sind oft rar. Das NEST bildet hier einen wichtigen Zwischenschritt zwischen Labor und Feld. Die Testmodule werden von realen Personen – in der Regel Angestellten oder Gästen der Empa – bewohnt oder als Arbeitsräume genutzt. Diese geben den Forschern Feedback zur Funktionsfähigkeit der Innovationen. So kann ein Test unter realen Bedingungen stattfinden, ohne dass hierzu gleich ein komplettes Gebäude neu errichtet werden muss.

Die ersten, bereits im NEST eingebauten Forschungsmodule befassen sich zum Beispiel mit neuen Holzwerkstoffen, Arbeitsplatzkonzepten für die Zukunft sowie mit der Frage, wie sich energieintensive Wellnesseinrichtungen (z. B. Saunen und Dampfbäder) auf Basis erneuerbarer Energien betreiben lassen. Entwickelt wurden sie von führenden Schweizer Hochschulen wie der ETH Zürich, der EPFL in Lausanne oder der Hochschule Luzern.

Aus statischer Sicht war die Konstruktion des Rohbaus ein Kraftakt. Die Geschossdecken kragen an den Ecken teils mehr als 10 Meter aus. Die Fassadenebene sollte unbedingt frei von Stützen bleiben, damit sich die einzelnen Module wie Schubladen mit dem Kran in das Betonregal einschieben lassen. Die vorgespannten Decken sind daher bis zu 60 Zentimetern dick. Auch die Brettschichtholzträger des Dachs wurden teilweise vorgespannt. Enorme Lasten treten auch in den Betonwänden auf, die teilweise vom Erschließungskern auskragen. Als Durchstanzbewehrung sind in ihrem Inneren große Pilzstützen aus Stahl eingegossen. Zusätzlich nehmen Druckbewehrungen aus Vollrundstahl die Vertikallasten auf.

Zwei Wärme-, vier Wasser- und sechs Abwassernetze
Auch die Gebäudetechnik des NEST sollte für alle Eventualitäten gerüstet sein. Mehr noch als die reine Effizienz stand dabei die Anforderung im Vordergrund, den künftigen Forschungsmodulen jede nur erdenkliche Form der Wärme-, Kälte- und Wasserversorgung angedeihen lassen zu können. In einem »Energy Hub« im Untergeschoss befinden sich unterschiedlichste Wärme- und Kälteerzeuger wie eine Brennstoffzelle, Wärmepumpen, Eisspeicher und Erdwärmesonden. Als »Back-up« für den Neubau fungieren darüber hinaus das Nahwärme- und Stromnetz auf dem Areal der Empa, die derzeit sukzessive auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Den Benutzern des NEST stehen für ihre Module zwei Wärmenetze (Hoch- und Niedertemperatur) und ein Kältenetz zur Verfügung. Es gibt vier Arten der Wasserversorgung im Gebäude (Regenwasser mit und ohne Trinkwasserqualität, Grauwasser und kaltes Trinkwasser) und sechs unterschiedliche Abwasseranschlüsse pro Modul.

Der krönende Abschluss kommt noch
Im kommenden Jahr wird das NEST dann auch baulich seinen krönenden Abschluss erhalten: Auf dem obersten Deck soll dann das Forschungsmodul HiLo der ETH Zürich errichtet werden. In diesem Bauteil mit seinem Aufsehen erregenden Schalendach sollen neue Technologien in den Bereichen Leichtbau, adaptive Gebäudehüllen und Energiemanagement erprobt werden. Für die Steuerungstechnik ist dabei ein Team unter Prof. Arno Schlüter verantwortlich. Die Dachkonstruktion wurde am Lehrstuhl von Philippe Block errichtet, der zuletzt mit seinen Aufsehen erregenden Kuppelkonstruktionen auf der Architekturbiennale in Venedig von sich reden machte.
weitere Informationen: Mitarbeiter: Philipp Hübner, Claudia Kuhn, Sarah Schneider (Projektleitung), Julian Gatterer, Matthias Helmreich, Kathrin Hiebler, Marco Jacomella, Panagiota Michailidou, Jürgen Pauger, Marion Ott, Sebastian Pajakowski, Poltak Pandjaitan, Henning Proske, Christian Schwarzwimmer, Miriam Zehnder, Basile Diem

Aussenansicht NEST Südwest (Foto: Roman Keller)

Aussenansicht NEST West (Foto: Roman Keller)

Aussenansicht NEST Nord (Foto: Roman Keller)

Atrium NEST (Foto: Roman Keller)

Energy Hub – ehub (Foto: Roman Keller)

Water Hub (Foto: Roman Keller)

Unit Vision Wood: Holzinnovationen in einer studentischen Wohngemein- schaft. Türe aus mineralisiertem Holz und Türgriff aus antimikrobiellem Holz. (Foto: Roman Keller)

Unit Vision Wood: Holzinnovationen in einer studentischen Wohngemein- schaft. Lavabo aus hydrophobem Holz. (Foto: Roman Keller)

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