08.10.2009 Frank Kaltenbach

Märchenschloss oder Bücherturm?

Die Lage des neuen Medienzentrums könnte zentraler nicht sein. Mitten in Berlin zwischen Museumsinsel und Bahnhof Friedrichstraße, schließt das neue Medienzentrum eine weitere Lücke der Hauptstadt. Im Süden von den S-Bahnbögen, im Westen durch Planck- und im Osten durch die Geschwister-Schollstraße begrenzt bildet der Baukörper im Grundriss ein U, das in seiner Mitte den großen Lesesaal umfasst und mit den Enden an die bestehende Blockrandbebauung anschließt. Die Höhenentwicklung dieser Seitenflügel orientiert sich an der Berliner Traufhöhe von 22 m, die Fassade parallel zu den S-Bahnbögen ist zurückgesetzt, formuliert einen langgestreckten Vorplatz und ragt als markante Scheibe über die Blockbebauung hinaus.

Foto: Frank Kaltenbach

Nach einer wechselvollen 177-jährigen Geschichte erhält die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität auf dem Campus Mitte ein eigenes Gebäude, das auch die Privatbibliothek der Namensgeber - der Bru?der Grimm - beherbergen wird. StudentInnen und MitarbeiterInnen der Universität sowie einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit werden hier neben dem fundierten Bestand an aktueller Forschungsliteratur erstmals auch die wertvollen Sammlungen wissenschaftlicher Literatur des 19. Jahrhunderts und die Spezialsammlungen in einer angemessenen Umgebung zugänglich gemacht.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Das bestimmende Modul für das Gebäuderaster gibt die Breite der Bücherregale von 60 cm vor. An der Fassade bildet sich das Innenleben ab. Dort wo Regale an die Außenwände stoßen sind die Fensterschliztze schmal, bei Leseplätzen gewähren breitere Öffnungen einen Ausblick auf die Stadt.In den Bereichen mit Leseplätzen, sind die Fassadenstützen auseinandergezogen, in den Bereichen mit hauptsächlich Magazinfunktion stehen die Fassadenlisenen dichter zusammen und ergeben in Zusammenhang mit den großen Laibungstiefen der Fenster einen natürlichen Sonnenschutz für die Bücher.
Durch das Zusammenfassen von jeweils zwei Geschossen im Hochhausbereich und Gebäudesockel und die dadurch erzeugte Schlankheit der Zwischenräume wird die Gebäudefigur proportioniert. Die Abstände zwischen den Fassadenlisenen ergeben sich dabei natürlich aus den notwendigen Gangbreiten zwischen den Bücherregalen. So wirkt der Baukörper trotz aller Stringenz lebendig und abwechsungsreich.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Vom großen Maßstab bis zur Fensterformaten Materialwahl und leichten Rücksprüngen in der Fassade orientiert sich der Neubau am Bestand.

Foto: Frank Kaltenbach

Die Fassadenstützen sind in gelblich gebändertem Juramarmor realisiert, der im Farbton mit den Gebäuden des zentralen Bereiches von Berlin korrespondiert. Das an den Steinoberflächen verwendete Hochdruck- Wasserstrahlverfahren hebt die natürliche Steinstruktur hervor.

Foto: Frank Kaltenbach

Die Kompaktheit des Baukörpervolumens ermöglicht einen geräumigen Vorplatz zum Stadtbahnviadukt, der einerseits die städtebaulich wichtige Wegeverbindung zwischen der Friedrichstadt und der Museumsinsel herstellt und andererseits als Entreesituation für die Bibliothek dient. An diesen Vorplatz orientiert sich auch die 2-geschossige Eingangshalle und belebt mit ihren öffentlichen Funktionen das städtische Leben. Eingange an an allen drei Gebäudeseiten machen auch das Gebäude selbst im Erdgeschoss durchlässig.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Symmetrisch aus der Mittelachse der Eingangshalle steigen zu beiden Seiten die Treppen als Himmelsleitern an. Die Treppenanlage folgt dem Schnitt des zentralen Lesesaals und erschließt die zurückgesetzten Lese-Terrassen. Wie ein Möbel steht der Raumkörper des Saals eingestellt in die weißen Erschleißungsflächen. Die Bekleidung des Tragwerkrasters die an der Fassade mit rauem Naturstein verkleidet ist, wird im Innenraum mit Hartholz ausgeführt. Die Ruhe und Beherrschtheit des Entwurfes wird durch die Reduzierung auf den Farbkanon weiß- schwarzgrau, rötlichem Holz und dunkelrot bzw. dunkelgrün gehaltenen Möbeloberflächen unterstrichen.
Die Freihandbereiche sind sparsam mit glatten schwarzen Linoleumböden, matten schwarzgrauen Stahlblech- Bücherregalen und weiß gestrichenen Wänden und Decken gehalten. Im Kontrast dazu werden für Sonderbereiche, wie der zentrale Lesesaal und der Forschungslesesaal, die Lesekabinen und die Einbauten in der Haupteingangshalle amerikanisches Kirschbaumfurnier verwendet. Stark beanspruchte Bereiche wie die Haupteingangshalle und die Lesesaal- begleitende Freitreppe sind mit einem Natursteinboden in gebändertem Juramarmor analog zur Fassade ausgelegt. Um das Gebäude vom Boden abzusetzen, ist der städtische Vorplatz mit dunklen Basaltplatten realisiert.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Lesetische und Tischleuchten wurden nach eigenem Entwurf gefertigt und sind wesentlicher Teil des Gestaltungskonzeptes. Für die obere Leuchtenabdeckung werden transluzente Verbund- Quarzitstein-Glasplatten als Analogie zu den farbigen Glasschirmen an Tischbeleuchtungen in historischen Lesesälen verwendet. Die gesamte Haustechnik ist in die Kirschbaumbekleidung integriert.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Herzstück des Gebäudes bildet der zentrale Lesesaal, der in seinem Ursprung aus der Sehnsucht nach dem „Lesen unter dem freien Himmel“ entsprungen ist, und jetzt, vom Glasdach überspannt, den Nutzern den Blick in den Himmel gestattet.
Die Abstufung der Leseterrassen im zentralen Lesesaal erlaubt durchgängig jeweils eine direkte Verbindung von den Bücherregalen zu den dezentralen Arbeitsräumen und ruhigen Leseterrassen. Es vereint die heutige Diskussion von dezentralen und zentralen Raumkonzepten. Als Kontrast zum introvertierten, zentralen Lesesaal bestehen flexibel erweiterbare, individuelle Lese- Inseln an der Fassade mit Blick über die Stadt.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Aufgrund der Kompaktheit des Baukörpers und der hohen Nutzungsdichte ist die notwendige Wärmeabfuhr eine zentrale Aufgabe der Haustechnik. Um das Raumklima so angenehm wie möglich zu gestalten und die Speichermasse der Decken nutzen zu können wurde auf abgehängte Decken verzichtet und sämtliche haustechnische Installation im Boden oder in den Betondecken selbst geführt. Die Zuluftleitungen zur Aktivierung der Beton- Speichermasse sind in der Mitte der Decken geführt. Die Rohdecken werden dadurch gekühlt und nehmen im Gegenzug Raumwärme auf.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Ein weiteres Raumkonzept zum Lesen ist oberhalb der Traufhöhe in Form des an der Südfassade liegenden Forschungslesesaales realisiert, der dem Leser eine großzügige Aussicht auf die Stadtlandschaft Berlins gestattet.

Foto: Stefan Müller, Berlin

Die feierliche Eröffnung des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums wird am 19. November 2009 mit einem Festakt und anschließendem Tag der offenen Tür als Auftaktveranstaltung im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Humboldt-Universität zu Berlin stattfinden.

Foto: Frank Kaltenbach

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