23.09.2011

Materialeffizientes Bauen

Bauteile aus funktional gradierten Werkstoffen: Neue Perspektiven für eine ressourceneffiziente und recyclinggerechte Bauweise Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK), Universität Stuttgart: Prof. Dr. Dr. E.h. Werner Sobek, Dipl.-Ing. Pascal Heinz, Dipl.-Ing. Michael Herrmann Durch die Entwicklung von Bauteilen aus funktional gradierten Werkstoffen kann das Bauwesen zu einer signifikanten Reduktion des Ressourcenverbrauchs, des Müllaufkommens, der Emissionen und des Energieverbrauchs beitragen. Das Grundkonzept der funktionalen Gradierung von Werkstoffen ist eine Entwicklung der Luft- und Raumfahrttechnik. Während die Forschung dort auf dünne Oberflächenschichten beschränkt blieb, erweiterte das Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart das Prinzip der funktionalen Gradierung auf größere Dimensionen und auf Anwendungen im Bauwesen.

Funktional gradierte Baukörper (ILEK Stuttgart)

Foto: Hersteller

Sortenreine multifunktionale Bauteile Zahlreiche Materialeigenschaften wie beispielsweise die Festigkeit, die Wärmeleitfähigkeit und die Dichtigkeit können durch die Änderung der Porosität eines Materials (Beton, Metalle, Glas oder Kunststoffe) in einem weiten Spektrum variiert werden. Somit ist es möglich, z.B. Betonwände zu entwickeln, die nur aus einem einzigen Material bestehen, aber dennoch allen Anforderungen an eine Gebäudehülle gerecht werden. Dadurch kann wertvolle Nutzfläche gewonnen und die Rezyklierbarkeit des Bauteils deutlich verbessert werden, denn: marktübliche Wärmedämmverbundsysteme bestehen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Materialien, deren dauerhafter Verbund die sortenreine Trennung und damit ein späteres Rezyklieren deutlich erschwert. Durch den gradierten Übergang von dichten und tragenden Deckschichten zu einem hochporösen Dämmkern (z.B. Aerogelbeton) können rein mineralische Außenwandbauteile realisiert werden, deren Wandstärke nur noch ein Viertel der Dicke vergleichbar leistungsfähiger Dämmbetone beträgt.

Funktional gradierter Wandaufbau (ILEK, Stuttgart)

Dächerlandschaft; © Thomas Eicken Architekturfotografie, bearbeitet von TU Darmstadt, D. Blome

vlnr: Julian Breinersdorfer, Berlin, Petra Kurzhöfer, GEWOBA Bremen, Jakob Schoof, DETAIL, Prof. Karsten Tichelmann, vht Darmstadt; © Messe NordBau – SixConcept

Automatisierte Herstellung Die größte Herausforderung bestand in der Entwicklung eines wirtschaftlichen Verfahrens zur Herstellung gezielter Eigenschaftgradienten. Die Porosierung von Beton erfolgt dabei durch die Verwendung poröser Leichtzuschläge und das Einbringen zusätzlicher Luftporen in die Zementmatrix. Die dreidimensionale Gradierung kann durch das am ILEK entwickelte und patentierte Simultan-Sprühverfahren erzielt werden, wobei sich die Zusammensetzung des Sprühnebels kontinuierlich ändert und positionsabhängig die jeweils erforderliche Betonmischung aufgetragen wird. Die Automatisierung des Verfahrens erlaubt die schnelle und wirtschaftliche Herstellung von Betonbauteilen mit kontrolliert variierender Porosität. Die Weiterentwicklung dieser Technologie bildet einen Schwerpunkt der weiteren Forschung am ILEK. Fließende Materialübergänge Neben der Gradierung der Porosität können auch Gradierungen der Materialität realisiert werden. Der fließende Übergang von einem Material zum anderen ist eine leistungsfähige und aus gestalterischer Sicht faszinierende Alternative zu herkömmlichen Verbindungstechniken wie Verschraubungen oder Verklebungen. Diese stellen in der Baupraxis häufig Schwachstellen auf Grund punktueller Lasteinleitung oder thermischer Ausdehnung dar, die durch einen gradierten Materialübergang vermieden werden können. Verfahren zur Herstellung von fließenden Übergängen für die Werkstoffe Holz, Aluminium, Kunststoffe und Faserverbundwerkstoffe sind in der Erprobungsphase.

Fließende Materialübergänge (ILEK, Stuttgart)

Foto: Artemide S.p.A.

Foto: Artemide S.p.A.

Formgerechte Materialgebung Die Entwicklung einer funktional gradierten Bauweise leistet in erster Linie einen Beitrag zur Verwirklichung einer ressourceneffizienten Architektur. Darüber hinaus ergeben sich aber auch neue gestalterische Perspektiven: so können die Bauteileigenschaften unabhängig von der äußeren Form des Bauteils definiert werden - sei es durch Variation der Porosität, der Steifigkeit oder durch fließende Materialübergänge. Wurde in der Vergangenheit vorzugsweise das Optimierungskonzept der "materialgerechten Formgebung" verfolgt, so erlauben Bauteile aus funktional gradierten Werkstoffen einen neuen Gestaltungsansatz, der als "formgerechte Materialgebung" bezeichnet werden könnte. Forschungsstelle Die Erforschung und Weiterentwicklung funktional gradierter Werkstoffe und Bauteile erfolgt am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart (ILEK) unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. E.h. Werner Sobek. Die Konzepte für Anwendung und Herstellung von Bauteilen aus funktional gradierten Werkstoffen im Bauwesen wurden seit 2006 im Rahmen der Promotion von Pascal Heinz am ILEK entwickelt. Wesentliche Erkenntnisse wurden seit 2009 im Rahmen des Forschungsprojektes "Herstellungsverfahren und Anwendungsbereiche für funktional gradierte Bauteile im Bauwesen", das die Durchführung eines umfangreichen Versuchsprogramms ermöglichte, gewonnen. (Förderstelle: Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Bearbeiter: Pascal Heinz und Michael Herrmann). Die Weiterentwicklung der Gradientenbetontechnologie und deren Anwendung auf gewichtsreduzierte Bauteile erfolgt im Rahmen der Promotion von Michael Herrmann. Aus dem ersten, die Grundidee der Forschergruppe auslotenden Forschungsprojekt sind inzwischen mehrere Folgeprojekte mit den Schwerpunkten Tragwerk, Gebäudehülle, Verbindungstechnik und Herstellungstechnik hervorgegangen. Zahlreiche führende Unternehmen der deutschen und internationalen Betonindustrie sind an diesen Projekten beteiligt. Weitere Informationen finden Sie hier 
Bei Bauteilen aus funktional gradierten Werkstoffen werden die Materialeigenschaften im Bauteilinneren stufenlos in allen drei Raumrichtungen kontinuierlich geändert (gradiert) und dadurch optimal an die Erfüllung der lokalen Anforderungen angepasst. Die Gradierung der Materialeigenschaft wird entweder durch die Variation der Porosität eines Werkstoffes oder durch die Änderung des Mischungsverhältnisses verschiedener Werkstoffe erreicht. 50 Prozent Materialersparnis Durch die Gradierung der Porosität im Inneren tragender Bauteile wird eine präzise Anpassung der Materialeigenschaft an die tatsächlich auftretende Beanspruchung erreicht. Unbeanspruchtes und damit überflüssiges Material kann dadurch vermieden werden. Die Natur bietet vielfältige Beispiele für dieses Optimierungsprinzip wie etwa die gradierten Verzweigungen (Spongiosa) im Inneren von Knochen. Bauteilversuche haben gezeigt, dass durch Anwendung dieses Ansatzes bei Geschossdecken aus Beton Materialeinsparungen von über 50 Prozent möglich sind. Da der Zementverbrauch dabei in gleicher Größenordnung sinkt, sind - neben der deutlichen Einsparung an Material und Gewicht ebenso große Einsparungen an im Bauteil gebundener Energie und der CO2-Emissionen möglich, die bei der Zement-Herstellung entstehen.

Porosität eines Gradientenbetons, Nahaufnahme (ILEK, Stuttgart)

Foto: © Evert Palmets

Foto: © Tõnu Tunnel

Photo: © Evert Palmets

Photo: © Tõnu Tunnel

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