29.06.2012 Peter Popp

Olympiastadion Kiew – im Gespräch mit Volkwin Marg

Von Christian Schittich Das 68.000 Zuschauer fassende Olympiastadion in Kiew stand im Mittelpunkt des Geschehens beim Finale der Fußball-EM 2012. DETAIL sprach mit dessen Architekten Volkwin Marg (gmp). Architekten: gmp, Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Personal Creative Architectural Bureau Y. Serjogin
Tragwerksplanung (Dach und Hauptfassade):
schlaich bergermann und partner, Stuttgart
Tragwerksplanung (Massivbau): KKIG Aachen, Kempen Krause Ingenieurgesellschaft bR

Olympiastadion Kiew: Prägnante Struktur inmitten der Stadt; Foto: Marcus Bredt

DETAIL: Gerade beim Bau großer Arenen spielen auch die Tragwerksplaner eine entscheidende Rolle. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

Volkwin Marg: Das gemeinsame Entwerfen mit den Ingenieuren, z.B. mit schlaich bergermann und partner ist bei uns eine Gewohnheit, das gehört zum Arbeitsstil. Architektur ist ja immer ein Ergebnis aus Form finden und Form setzen und soweit es das Tragwerk, also das Konstruktive betrifft, sind gut entwerfende Ingenieure auch immer gute Formfinder, da aber vom Inszenatorischen her auch immer eine Deutung gesucht wird, für die man einen architektonischen Ausdruck braucht, muss man die Formfindung mit der Formsetzung kombinieren, also für den Ausdruck von Inhalt und Genius Loci. In unserem Teams fragt niemand, welche Idee von wem kommt: Das motiviert auch unsere Ingenieurskollegen. Es provoziert ihre Kreativität und ihre Offenheit und bringt uns wiederum dazu, von vornherein sehr strukturell zu denken.
Bauherr: National Sport Complex "Olympiysky"
Entwurf: gmp · Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Personal Creative Architectural Bureau Y. Serjogin
Tragwerksplanung Dach und Hauptfassade:
schlaich bergermann und partner, Stuttgart – Knut Göppert mit Markus Balz und Thomas Moschner
Tragwerksplanung Massivbau: KKIG Aachen, Kempen Krause Ingenieurgesellschaft bR
Generalunternehmer: Kyivmiskbud, Kiew; AK Engineering, Kiew; Master Profi Ukraine, Dnepropetrovsk
Bauzeit: 2009  – 2011
Eröffnung: 8. Oktober 2011
Baukosten: 585 Mio Euro
Hauptnutzer: Ukrainische Nationalmannschaft
Sitzplätze: 68.000, VIP-Plätze 2300
Dachfläche: 43.000 m²
Gewicht Seiltragwerk: ca. 1000 t
Dimensionen: 300 m x 220 m x 51 m

Foto: Marcus Bredt

Die Kiewer Arena steht zentrumsnah auf geschichtsträchtigem Terrain. Ein Vorläuferbau der immer wieder veränderten und erweiterten Sportstätte reicht als „Rotes Stadion Leo Trotzki“ bis ins Jahr 1923 zurück. Seit 1980 darf sich die Anlage mit dem Prädikat „Olympiastadion“ schmücken, denn damals diente das Stadion als einer der Austragungsorte des Fußballturniers im Rahmen der Sommerspiele in Moskau. Von diesem Vorgängerbau übernahmen die Planer im Wesentlichen die Oberrangtribüne, eine ebenso filigrane wie kühn auskragende Spannbeton-Konstruktion aus Sowjetzeiten. Um diese ordneten sie einen Kranz aus 80 geknickten Stahlstützen an und spannten innerhalb dieses Pylon-Ringes ein abgehängtes Membrandach. Durch die  unterschiedliche Neigung der riesigen Stützen gelang es den Architekten und Ingenieuren, die ursprüngliche Grundrissform eines Leichtathletik-Stadions mit geraden Längsseiten in eine ellipsenförmige Dachöffnung zu überführen. Unter der charakteristischen Dachhaut fühlt sich der Besucher nun wie unter einem Himmel voller Sterne – ein hübscher Effekt, der aus den vielen sternförmigen Membranverstärkungen resultiert. Sie folgen den 640 von Luftstützen getragenen Oberlichtern. „Der ornamentale Eindruck des Bauwerks“, darauf legt der Architekt besonderen Wert, „ergibt sich allein aus den konstruktiven Bedingungen.“

Das markante Membrandach; Fußball unterm Sternehimmel. Foto: Christian Schittich

DETAIL: Herr Marg, am 1. Juli werden einige Hundert Millionen Menschen die Übertragung des EM-Finales aus dem Kiewer Olympiastadion im Fernsehen verfolgen. Sie und ihr Team haben die Arena entworfen. Was ist das für ein Gefühl für den Architekten?

Volkwin Marg: Ach, das Stadion als Bauwerk kommt doch im Fernsehen eigentlich nicht vor. Eine Übertragung wird zwischen den Sendern und dem Veranstalter bis auf die letzte Minute nach kommerziellen Kriterien ausgetüftelt. Sie sollen auf den Ball gucken und gleichzeitig auch auf die Werbung. Auch vor und nach dem Spiel zählt jede Sekunde. Ein Kameraschwenk ins Stadion wäre verlorene Werbezeit.

DETAIL: Das Stadion ist also nur noch Kulisse fürs Fernsehen?

Volkwin Marg: Eigentlich noch nicht einmal das. Zu sehen sind vor allem die Menschenmassen, die eigentlich immer gleich ausschauen, die aber die authentische Stimmung herüberbringen sollen.

DETAIL: Ist deshalb auch die Bestuhlung farblich so gestaltet, dass auch leere Ränge belebt aussehen?

Volkwin Marg: Das ist ein Nebeneffekt. Für die Sitze haben wir verschiedene Blau- und Gelbtöne verwendet, in den Nationalfarben der Ukraine. Daraus entwickelten wir dann eine Art Camouflage. Wenn die Leute das Stadion füllen verändert sich diese kontinuierlich, zu den blauen und gelben Punkten kommen nun andere – rote, grüne oder schwarze – dazu. Wie bei einem Vexierbild sieht man kaum, was Eigen- und was Fremdfarbe ist, das heißt wie voll oder leer die Ränge tatsächlich sind.

DETAIL: Haben sie das Muster selbst entwickelt oder war ein Künstler involviert?

Volkwin Marg: Das hatten wir uns schon für die WM 2010 in Südafrika ausgedacht. Jeder Mitarbeiter im Büro, der Lust hatte, durfte wie ein impressionistischer Maler am Computer farbige Pixel setzen.

Die Bestuhlung: Eine Camouflage aus den ukrainischen Nationalfarben; Foto: Marcus Bredt

DETAIL: Herr Marg, wie viele Stadien haben Sie mit Ihren Teams schon entworfen?

Volkwin Marg: Entworfen haben wir schon mehr als 60, realisiert oder im Bau sind bislang ein gutes Dutzend.

DETAIL: Das heißt, Sie sind mit Ihren Teams aktuell der wahrscheinlich erfolgreichste Stadionplaner weltweit. Wie kam es dazu?

Volkwin Marg: Wirklich begonnen hat alles mit dem Umbau des Berliner Olympiastadions für die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 2006. Nach dem Gewinn des Wettbewerbs dazu folgten dann auch noch Frankfurt und Köln. Bei der nächsten WM 2010 in Südafrika waren wir wieder mit drei Stadien erfolgreich, auch 2014 in Brasilien sind wir mit den Arenen in Brasilia und Manaus dabei. Für die aktuelle Europameisterschaft 2012 haben wir das Nationalstadion in Warschau und das Olympiastadion in Kiew geplant und gebaut, außerhalb dieser Großereignisse aber auch verschiedene Arenen in anderen Ländern. Auf das gleichzeitig realisierte rumänische Nationalstadion in Bukarest bin ich besonders stolz.

DETAIL: Was fasziniert Sie eigentlich so am Stadionbau?

Volkwin Marg: Es ist die ausgewogene Balance wie hier Funktion, Konstruktion und Deutung zusammenwirken. Architektur ist für mich die Synthese aus drei Formen der Ästhetik. Da ist zunächst die pure Funktionsästhetik, wie bei einem Handwerkzeug, wo die Funktion die optimale Form definiert. Das Nächste ist die Konstruktionsästhetik – wie konstruiere ich ingeniös sinnvoll die funktionsgerechte Gestalt? Die dritte Komponente ist die Bedeutungsästhetik: Wie deute ich den Inhalt und den Genius Loci mit dem, was ich funktional richtig und konstruktiv optimal baue. Erst wenn wir eine harmonische Synthese aus diesen drei Aspekten erreichen, wird es gute Architektur. Deshalb sehen unsere Stadien niemals gleich aus. Der kulturelle und örtliche Kontext ist halt immer verschieden.

Dachdetail: Luftstützen und Lichtkuppeln; Foto: Christian Schittich

DETAIL: Wie kam es denn in diesem Zusammenhang zu dem eindrucksvollen Sternenhimmel hier in Kiew?

Volkwin Marg: Ursprünglich wollten wir das gesamte Dach absolut transparent ausbilden. Und zwar mit einer vollkommen klaren Gittermaschenfolie. Doch bei den Belastungsproben ist diese Folie immer wieder gerissen, sodass wir uns schließlich dafür entschieden haben eine konventionelle Membran zu verwenden, und diese mittels transparenten Lichtkuppeln aufzuspannen. Die dunklen Stellen, in der weiß ausbleichenden Membran, die das Sternenmuster bilden, entstehen durch Überlagerungen der aufgedoppelten Membran, die wiederum exakt dem Kräfteverlauf der Aufspannung folgen. Die Geschicklichkeit beim Entwurf besteht in der richtigen Vorgabe von Form bildenden technischen Prämissen für die Konstruktion, so dass dann eine Konstruktionsästhetik entsteht, die sich selbst erklärt und auch Deutungen anbietet. Wenn jetzt die Leute sagen, sie säßen unter einem Sternenhimmel, dann freue ich mich darüber. Sie könnten aber auch sagen, ich bin wie ein Käfer und sitze unter Sonnenblumen. Die Menschen bilden sich ihre Metaphern selbst.

DETAIL: Dann bereuen Sie es also nicht, dass Sie Ihre ursprüngliche Vorstellung von einem vollkommen transparenten Dach nicht umsetzen konnten?

Volkwin Marg: Nein. Ich bereue es nicht. Vor allem auch deshalb nicht, weil wir gerade ein Stadion mit einem transparenten Dach verwirklichen werden, und zwar im polnischen Chorzów. Dort verwenden wir Polycarbonat-Dreistegplatten.

Anschluß der Glasfassade; Foto: Christian Schittich

Der Dachrand aus Zugseilen und die abgehängte Beleuchterbrücke; Foto: Christian Schittich

DETAIL: Ist denn der Sonnenschutz bei einem im Sommer sehr heißen Klima wie hier in Kiew kein Problem bei einem aufgelösten Dach?

Marg: Da kann ich einfach sagen: Sportevents haben sich längst vom Tageslicht verabschiedet. Denn Tageslicht ist nicht manipulierbar. Alle Events werden neuerdings mit Kunstlicht gesteuert und finden deshalb in der Dämmerung und in der Abendzeit statt. Es ist das gleiche Phänomen wie bei Einkaufszentren oder Messebauten.

DETAIL:
Warum wollten Sie dann eigentlich ein transparentes Dach, wenn eh alles erst bei Dunkelheit stattfindet?

Volkwin Marg:
Wegen der Wirkung nach außen. Innen wird eine so ungeheure Lichtmenge gebündelt, dass dieses Stadion mitten in der Stadt bei Nacht und in Betrieb dermaßen in den Himmel strahlt, dass man es von weit her sieht und denken kann, hier sei ein Ufo gelandet. Das ist schon faszinierend.

DETAIL:
Lassen Sie uns zum Schluss noch kurz auf die Situation hier vor Ort eingehen. Was heißt es, in der Ukraine zu bauen?

Volkwin Marg: Nicht enfach waren für uns die chaotischen Strukturen hier im Land und  ständig wechselnde Ansprechpartner. Auf der Auftraggeberseite hatten wir selten einen richtigen Bauherrnvertreter, unsere Ansprechpartner wechselten, wir bekamen keine Entscheidungen oder es fuhrwerkte ein neuer Minister dazwischen und getroffene Entscheidungen wurden willkürlich wieder verändert. Ein weiteres Problem war eine Bauwirtschaft die ähnlich chaotisch improvisierte. Die Ukraine ist ja eigentlich ein technologisch hochentwickeltes Land mit einer hochentwickelten Stahlindustrie. Es lag aber nicht an den Fähigkeiten, sondern an der mangelnden Koordination. Eklatant wirkte sich dieses Chaos bei der Arbeitssicherheit aus. In Kiew gab es bedauernswerterweise mehr Bauunfälle, als bei allen unseren drei afrikanischen Stadien zusammen.

Die historische Oberrangtribüne aus
Spannbeton-Fertigteilen; Foto: Christian Schttich

DETAIL: Und jetzt geraten Sie auch noch zwischen die Stühle der Politik?

Volkwin Marg: Natürlich gerät man als Architekt schnell zwischen die Stühle.
Wir hatten den Auftrag für Kiew noch vor der Regierung von Julija Timoschenko erhalten. Später wechselte die Regierung und wir mussten mit einem noch korrupteren System zurechtkommen. Eingeweiht hat dann das fertige Stadion der neue Herrscher Viktor Janukowitsch. Aber Architektur ist ja ein öffentlicher, politischer Prozess, der manchmal eine Geschichte hat, die über Jahrzehnte, manchmal ein Jahrhundert reicht und der oft über wechselnde Regierungsformen hinweggeht. Es kann passieren, dass man beispielsweise wie in unserem Fall mit einer pro-westlich orientierten Oligarchen-Herrschaft beginnt, das zumindest teilweise parlamentarische Spielregeln beachtet, um dann mit einem mafiösen Wirtschaftssystem weiterzumachen, das unsere Rechtstaatlichkeit nicht kennt. Es kann aber auch gut sein, dass sich in einem halben Jahr alles wieder total ändert.

DETAIL: Herr Marg, vielen Dank für das Gespräch. Das Gespräch mit Volkwin Marg führte Christian Schittich in Kiew.

Der Architekt Volkwin Marg in „seinem“ Stadion;
Foto: DETAIL

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Stadia – Sport and Vision in Architecture (Ausstellung)
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Effizienz als Leitmotiv – im Gespräch mit Knut Göppert
Neue Stadiondächer aus Membranwerkstoffen
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Wettkampf – Architektur
London 2012 - Wie nachhaltig wird Olympia? 
London 2012 - Die Ökobilanz der Spiele
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