Raumpioniere in ländlichen Regionen – der ländliche Raum als Cloud

Hamburg, München oder Berlin – Deutschlands Metropolen boomen. Im Gegensatz dazu kranken die ländlich geprägten Räume. Bahn- und Buslinien werden stillgelegt, Bildungs- oder Kulturangebote fehlen und an ärztlicher Versorgung beginnt es zu mangeln. Auslöser und Konsequenzen untersuchte die Urbanistin Kerstin Faber gemeinsam mit Philipp Oswalt und stellt mit den Raumpionieren neue Strategien zur Gestaltung nachhaltig lebenswerter ländlicher Gemeinden vor. Raumpioniere versuchen durch viel Engagement und Partizipation nicht nur nicht die eigene Lebensqualität aktiv zu verbessern, sondern tragen zu einem sozialen Mehrwert für das Gemeinwohl bei.

Leerstände und Brachen am Beispiel Stendal (Foto: Michael Uhlmann, 2011)

Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Sachsen-Anhalt 2010 beschäftigten sich Faber und Oswalt mit der Entwicklung und Struktur deutscher Mittelstädte. Davon ausgehend gingen sie der Frage nach, wie die Lebensbedingungen derzeit im ländlichen Raum aussehen und erlebten den demographischen Wandel als Symptom von Abwanderung, Peripherisierung und veränderten Arbeitstrukturen. „Während vor 100 Jahren 50 Prozent der Einwohner in der Landwirtschaft tätig waren, sind es heute zwei“, beschreibt Faber den Wandel und damit die Entkopplung von Landwirtschaft und Siedlungsraum. Heute bestimmen Faktoren wie Energie, Import/Export, Klimaveränderungen oder Subventionspolitik die Entwicklung einer Region. Im ländlichen Raum führt dies zu einer Unterversorgung in den Bereichen Gesundheit, Arbeit, Bildung und Kultur, so dass einzelne Bewohner beginnen, sich um Fragen der Lebensqualität selbst zu kümmern. Raumpioniere, von Faber in Anlehnung an den deutschen Ethnologen Ulf Mathiessen genannt, engagieren sich in den unterschiedlichsten Themenbereichen wie Energieversorgung, Infrastruktur und Verkehr oder Soziales und Kultur. Dabei fördern sie regionale Ressourcen und sichern langfristig ihre Region als attraktiven Standort.

Globaler Gesellschaftsumbruch (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2012, Darstellung Faber)

Als Netzwerke der unterschiedlichsten Interessen und Zusammensetzungen entdecken Raumpioniere neue soziale, kulturelle und ökonomische Möglichkeiten für ihre brachliegenden Räume, die sie unternehmerisch oder ehrenamtlich in Projekten selbstständig realisieren. So wirkt der Arbeitgeberzusammenschluss Südbrandenburg der Fachkräfteabwanderung entgegen. Ähnlich einer Zeitarbeitsfirma, jedoch mit unbefristeten Verträgen und gleichbleibendem Gehalt, arbeitet er als Verbund aus ca. 80 Firmen mit einer Art Mitarbeiterpool. Um Nachwuchskräfte zu rekrutieren wurde zudem ein Ausbildungsnetzwerk ins Leben gerufen, das nicht nur attraktive Lehrstellen anbietet, sondern die Ausbildungskosten auf mehrere Unternehmen verteilt. Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung haben sich die Südbrandenburger etwas einfallen lassen. Ein Netzwerk aus über 60 Ärzten baute ein Medizinisches Versorgungszentrum MVZ auf, dass insbesondere für Berufseinsteiger durch eine Festanstellung statt sofortiger Selbstständigkeit mit hohen Investitionskosten für das Praktizieren auf dem Land wirbt.

Infrastruktur: Problem: Abwanderung der monetären Ressourcen (Quelle: Publikation „Raumpioniere in ländlichen Regionen“, Heimann und Schwantes im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau, 2013)

Gesundheit: Problem: Ausdünnung des Ärztenetes, Stadt und Land konkurrieren (Quelle: Publikation „Raumpioniere in ländlichen Regionen“, Heimann und Schwantes im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau, 2013)

In der Regel versuchen Raumpioniere nicht nur nicht die eigene Lebensqualität aktiv selbst zu gestalten, sondern tragen zu einem sozialen Mehrwert für das Gemeinwohl bei. Trotz ihrer Leistungen werden sie derzeit politisch nur als Randerscheinung wahrgenommen. In ihrer Arbeit stoßen sie häufig auf die Grenzen staatlicher Regularien oder admistrativer Hürden. Auch eine finanzielle Förderung durch Kommunen, Land oder Bund fehlt häufig, so dass der mitunter jahrelange Projektaufbau letztendlich scheitert und die Akteure zum Aufgeben zwingt. Dass es auch anders geht zeigen Beispiele wie Pro Bürgerbus NRW e.V oder die BürgerEnergie Thüringen e.V.. In Nordrheinwestfalen erhalten Initiativen für Bürgerbusse, die der Ausdünnung des ÖPNV-Netzes entgegenwirken, Unterstützung in Form einer Organisationspauschale sowie einem Finanzierungszuschlag für die Fahrzeuge. „Es kann nicht sein, dass man seinen Strom bei einem Anbieter in Hamburg kauft, wenn man ihn in Thüringen bezieht“, zitiert Faber die Beweggründe der thüringer Initiative. Hand in Hand mit Land und Kommunen als Besitzer des Verteilernetzes arbeitet der Zusammenschluss aus neun Energiegenossenschaften am Aufbau einer eigenen Ökostrommarke.

Mobilität: Problem: Ausdünnung des ÖPNV-Netzes (Quelle: Publikation „Raumpioniere in ländlichen Regionen“, Heimann und Schwantes im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau, 2013)

Bildung: Problem: Ausdünnung Schulnetz, Zentralisierung Berufsausbildung, urbane Ausbildungswünsche (Quelle: Publikation „Raumpioniere in ländlichen Regionen“, Heimann und Schwantes im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau, 2013)

Kultur: Problem: Ausdünnung kultureller Aktivitäten, Leerstand, fehlende Nutzung und Finanzierung (Quelle: Publikation „Raumpioniere in ländlichen Regionen“, Heimann und Schwantes im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau, 2013)

Bisher sind in Deutschland die Aufgaben der Daseinsvorsorge nach dem Prinzip der zentralen Orte hierarchisch und territorial gegliedert. In vielen ländlichen Regionen funktioniert dies jedoch nicht mehr. „Ein alternatives Leitbild für die Organisation könnte die regionale „Cloud“ sein“, schlagen Faber und Oswaldt als Lösung vor. Ähnlich einer gemeinschaftlichen Rechnerwolke für Daten, Programm- oder Speicherkapazitäten könnten sich Nachbarkommunen und ihre Bewohner über Kreis- oder Ländergrenzen hinweg ihre Daseinsvorsorge selbst organisieren. Anstatt miteinander zu konkurrieren, ließen sich auf diese Weise Ressourcen teilen und die jeweilige Stärke herausarbeiten. Dazu bedürfte es allerdings einer staatlichen Unterstützung jenseits von starren Fördermechanismen, „es braucht ein anderes Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Es braucht einen kooperativen, ermöglichenden Staat.“ Weitere Informationen zur Publikation "Raumpioniere in ländlichen Regionen" Vortrag im Rahmen des DETAIL research Forums "Building the Future" zur Messe BAU 2015 am Thementag "Globalisierung versus Regionalismus.
Zur Person:
Kerstin Faber, M.Arch., freie Planerin und Urbanistin, ist spezialisiert auf die Entwicklung neuer Raumbilder und Gestaltungsprozesse und besitzt langjährige Erfahrung in der Konzeption, Durchführung und Moderation von Veranstaltungen und Workshops. Seit 2011 ist sie als Dozentin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Fachbereich Internationaler Städtebau tätig. Von 2003 bis 2010 arbeitete Faber als Projektmanagerin im Team der IBA Stadtumbau 2010 und war Co-Kuratorin der IBA-Abschlussausstellung 2010 in der Stiftung Bauhaus Dessau. Zudem ist sie seit 2004 als Herausgeberin, Publizistin und Produktkoordinatorin an zahlreichen Veröffentlichungen, Publikationen und Katalogen beteiligt.

Kerstin Faber bei ihrem Vortrag "Raumpioniere in ländlichen Regionen" am Thementag "Globalisierung versus Regionalismus" im Rahmen des DETAIL research Forums "Buildung the Future" zur Messe BAU 2015.

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