10.06.2020

Wir alle erleben gerade ein Extrem – Mögliche Folgen des Corona-Lockdowns

Foto: Peter Popp

Wie verändern der Lockdown und die Selbstisolation in den eigenen vier Wänden das Verhältnis der Menschen zur Wohnung und zur Architektur?

Gudrun Rauwolf: Viele erleben ihr Zuhause aus einer neuen Perspektive. Unsere alltäglichen Bedürfnisse, die unsere Wohnung prägen, ändern sich in dieser Zeit. Homeoffice, Homeschooling, der Wunsch nach Privatheit und nach Gemeinschaftsaktivitäten müssen an einem Ort realisiert werden. Das bedeutet eine enorme Verdichtung und verlangt nach neuen Aneignungsstrategien für unser Zuhause.

Welche Strategien könnten hier helfen?

Gudrun Rauwolf: Um dem zu begegnen, bietet sich zum Beispiel das Konzept der „Nonterritorialität“ an, dass wir schon länger in Bürogebäuden kennen. Es geht darum, Platz effektiv zu nutzen. Die Philosophie dieses Konzepts schafft für jede Tätigkeit einen geeigneten Bereich. Solche Konzepte können uns jetzt helfen, wenn die ganze Familie zu Hause ist. So gibt es beispielsweise Raum für konzentriertes Arbeiten, für Kommunikation, aber auch einen Bereich für sportliche Aktivitäten, Spielzonen und Rückzug. Das heißt nicht nur, dass mehr Nutzungsformen untergebracht werden, sondern auch eine bessere Trennung von Arbeit, Schule und Freizeit möglich ist. Gerade diese Grenzen zeitlich und räumlich sind zur Regeneration jetzt sehr wichtig. Gut ist es, die Wohnung neu zu denken entsprechend der neuen Bedürfnisse.

Herr Gleiter, Social Distancing lässt uns auch außerhalb unserer Wohnungen eine neue Raumtechnik praktizieren. Wie äußert sich diese?

Jörg H. Gleiter: Wir müssen Distanz halten und misstrauisch gegenüber jedem sein. Das lässt uns Bögen schlagen, um Menschen herum, die uns begegnen. Da gehen Psychologie und Architektur eine ganz neue Verbindung ein. Es entsteht ein neues Raumkonzept wie in Japan das Raumkonzept „Ma“, das für einen leeren, undefinierten Zwischenraum steht. „Ma“ findet Anwendung in vielen Bereichen, unter anderem in der japanischen Architektur und Gesellschaft, was man zum Beispiel bei japanischen Begrüßungsritualen sieht. Wir verhalten uns derzeit ähnlich. Wie unterschiedlich gepolte Magnete ziehen wir uns an und stoßen uns gleichzeitig ab.

Was macht das lange „Daheimbleiben“ in engen Räumen konkret mit uns und was können wir dagegen tun?

Gudrun Rauwolf: Oft fehlt der Raum für Rückzug. Alle Tätigkeiten passieren auf engstem Raum. Das kann zu Stress führen. Andere sind allein zu Hause und fühlen sich isoliert. Dem entgegenwirken kann man mit einer festen Struktur des Alltags, z. B. einem Stundenplan fürs Homeschooling, morgens zur gleichen Zeit aufstehen, als ginge man ins Büro und sich auch dementsprechend kleiden, sprich nicht im Schlafanzug an den Schreibtisch setzen. Auch Routine kann helfen wie Hausarbeit, Wäsche waschen, Kochen oder gemeinsam Spazierengehen.

Jörg H. Gleiter: Aber es ist nicht per se alles schlecht nur, weil man wochenlang auf engem Raum zusammen verbringt. Mir fehlen die positiven Aspekte, die das „Daheimbleiben“ auf Familien hat. Ich vermute, dass es nicht nur einen Anstieg an Gewalt innerhalb der Familien, sondern auch an gegenseitigem Respekt gibt. Menschen, die sonst keine oder wenig Zeit füreinander haben, haben sie jetzt und verbringen sie als Familien in einer neuen Qualität gemeinsam. Das könnte meiner Meinung nach ein positiver Nebeneffekt von Corona werden und das Miteinander vieler weiterhin beeinflussen.

Wegen des Lockdowns tritt die Schutzfunktion der Architektur in den Vordergrund. Doch die Wohnung schützt ihre Bewohner nicht nur. Kann das Drinnenbleiben im Extremfall auch psychische Schäden hinterlassen?

Gudrun Rauwolf: Die derzeitigen räumlichen Einschränkungen gehen mit sozialen Einschränkungen einher. Diese werden teilweise durch die Eröffnung zusätzlicher digitaler, virtueller Räume kompensiert. Vor dem Lockdown waren öffentliche Freiräume Orte des gesellschaftlichen Miteinander. Die bleiben momentan zum großen Teil verschlossen. Spielplätze wurden vor allem deshalb geschlossen, weil es dort durch die starke Verdichtung in den Innenstädten zu großen Kontaktflächen unter Kindern kam. Körperliche Aktivität, wie Sport oder ein gemeinsamer Spaziergang, sind weiterhin wichtig für die psychische Gesundheit.

Was bedeutet die aktuelle Situation für die weitere Wohnraumgestaltung und Planung?

Gudrun Rauwolf: Wir sollten die Erholungsqualität der Natur auch innerstädtisch nutzen und bei der Planung einbeziehen. Schon jetzt wissen wir aus Studien, dass selbst dem Blick aus dem Fenster ins Grüne eine positive Bedeutung für die Gesundheit zukommt.

Jörg H. Gleiter: Wir alle erleben gerade ein Extrem. Architektur bietet uns Schutz und lässt uns gleicherweise verzweifeln. Indem wir uns schützen und einschließen, werden wir gleichermaßen ausgeschlossen. Die Architektur schützt uns, schließt uns ein, indem sie uns ausschließt. So wird die einfache Handlung, an der Wohnungstür ein Paket von einem Boten anzunehmen, zu einem bisher unbekannten Ritual.

Glauben Sie, dass nach dem Lockdown die Rolle des öffentlichen Raumes wieder aufgewertet wird?

Jörg H. Gleiter: Wir haben ein neues Verhältnis zum öffentlichen Raum entwickelt. Auf unseren Balkonen und in den Gärten entstehen kleine Paradiese. Auch die Natur holt sich ihren Raum zurück. Sobald der Lockdown aber vorbei ist und die Menschen zurückkehren, wird auch das Paradies sich wieder auflösen. Das ist eine schmerzliche Erfahrung. Ich denke, diese Aspekte werden eine Rolle beim Neustart der Politik spielen. Es gibt ein neues Bewusstsein für die Umwelt.

Gudrun Rauwolf: Das sehe ich ebenso. Man staunt wie schnell sich Parks und Plätze nach ersten Lockerungen wieder gefüllt haben. Öffentliche Räume bekommen eine neue Wertschätzung trotz der Verdichtungsproblematik in den Städten. Verdichtung kann weiter sinnvoll sein, zum Beispiel in die Höhe, während Grünflächen dringend erhalten bleiben müssen, auch aus Nachhaltigkeitsgründen. Die jetzige Situation hat zu neuen Digitalkonzepten beim Arbeiten geführt, die teilweise weiterhin genutzt werden können und ein dezentrales Arbeiten einfacher möglich machen. Dies kann auch die Innenstädte städtebaulich entlasten und ist gleichzeitig eine Chance für ländliche Gebiete.

Frau Rauwolf, werden Sie die derzeitige Corona-Situation auch in Ihre Forschung integrieren? Wenn ja, wie?

Gudrun Rauwolf: Ja, die Hochschulen nutzen die Situation gerade für einen Digitalisierungsschub und vieles wird auf den Weg gebracht. Dies wird neue Studien zur Gestaltung von Lern- und Arbeitsräumen und der Verankerung des digitalen Raums im physischen und sozialen Raum zur Folge haben. Das gilt es architekturpsychologisch zu begleiten und wird in meine Forschung einfließen.

Gudrun Rauwolf Foto: Sto Stiftung

Jörg H. Gleiter Foto: Sto Stiftung

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