12.04.2019 Frank Kaltenbach

Das System Neue Heimat – (unwirtlicher Städtebau oder) ein Modell zur Lösung der aktuellen Wohnungskrise?

Foto: Frank Kaltenbach

37 Jahre hat es gedauert bis das Archiv der Neuen Heimat mit 25 000 Fotos und 25 Stunden Film wissenschaftlich aufgearbeitet war. Zwei Buchpublikationen und eine Ausstellung dokumentieren nun die architektonische Seite des gesellschaftlichen Phänomens im Nachkriegsdeutschland, das so abrupt durch einen Skandal gescheitert war. Die Ergebnisse treffen mitten ins Mark unserer heutigen Wohnungsbaumisere.

Die ehemalige Münchner Stadtbaurätin Christiane Thalgott hatte den richtigen Riecher, als sie dem Direktor des Münchner Architekturmuseums vorschlug, doch einmal eine Ausstellung über die Neue Heimat zu machen: Überteuerte Mieten, knappes Bauland im Zentrum, ein hoher Bedarf an bezahlbarem Wohnraum und als Lösung: Verdichtung und Rationalisierung der Bauprozesse durch industrielle Vorfertigung und serielle Grundrisse. Die brennendsten Themen heutiger Stadtpolitik sind nicht ganz neu. Sie führten nach dem Ende des 2. Weltkriegs zur Gründung der Neuen Heimat, einer Wohnungsbaugenossenschaft, die nicht der Gewinnmaximierung dienen sollte, sondern in der Hand der Gewerkschaften war, also das Gemeinwohl als oberste Priorität hatte.

Zu den vielen bitteren Erkenntnissen aus der Geschichte der Neuen Heimat gehört auch die Tatsache, dass die Landeshauptstadt München in den 1980 Jahren die 50 000 Wohnungen von Neuperlach aus der Konkursmasse der Neuen Heimat hätte übernehmen können. Die Stadt lehnte damals ab, der private Investor Alfons Doblinger schlug zu. Es wird nicht zu seinem Schaden gewesen sein.

In den 32 Jahren ihres Bestehens errichtete die seit 1950 von den Gewerkschaften getragene Wohnbaugesellschaft Neue Heimat 460 000 bezahlbare Wohnungen, die meisten davon in Großsiedlungen. In den Jahren der Hochkonjunktur von 1953 bis 1973 waren es 20 000 pro Jahr. Im Vergleich zu heute scheint das viel, die Landeshauptstadt München strebt momentan jährlich den Bau von 8000 bis 10 000 Wohnungen an. Bezogen auf die damalige Bautätigkeit in Westdeutschland – 500 000 Wohnungen wurden 1953 gebaut, 700 000 im Rekordjahr 1973 – ist die Neue Heimat rein quantitativ jedoch nur eine von mehreren großen Firmen. Dennoch hat sie das Bild deutscher Nachkriegsstädte und unserer Gesellschaft in einem Ausmaß geprägt wie kein anderes Wohnungsbauunternehmen.

Die Ausstellung im Architekturmuseum der TU München rollt nun die gesamte Geschichte der Neuen Heimat auf, von den ersten Wohnungen für ausgebombte deutsche Familien, die nach 1945 in Baracken hausen mussten, bis zu futuristischen Kulturtempeln wie dem maschinenartigen ICC Berlin, dem Großklinikum Aachen mit 1500 Betten und den weithin unbekannten internationalen Projekten rund um den Globus - vom Umland von Paris bis nach Jerusalem, Tansania, Ghana und Südamerika. Den Abschluss bilden natürlich die Originalcover des Nachrichtenmagazins Spiegel, das die Veruntreuungen und Schuldenberge durch Missmanagement aufdeckte und so zur Auflösung des ursprünglich gemeinnützigen Unternehmens führte.

Andres Lepik und Hilde Strobl, die Kuratoren der Ausstellung, konnten bei Ihrer Recherche auf die umfassende Vorarbeit von Ulrich Schwarz vom Neue Heimat Archiv in Hamburg zurückgreifen, der seine jahrzehntelange Aufarbeitung nun in einem 800 Seiten fassenden, 3,5 Kilo schweren Gesamtwerk in Buchform vorstellt. Der Ausstellungskatalog, der in der Edition DETAIL erscheint, ist immer noch 236 Seiten stark und wirft einen eigenen, ordnenden Blick auf das fast unerschöpfliche Archivmaterial. Auf die Internationalisierung der Neuen Heimat, die in der Ausstellung ausführlich dokumentiert ist, haben Lepik und Strobel im Katalog verzichtet, dafür vermittelt ein Fotoessay des Fotografenduos Myrzik und Jarisch stimmungsvoll den heutigen Zustand der Großsiedlungen Neue Vahr in Bremen, Neuperlach und Parkstadt Bogenhausen in München, Mümmelmannsberg in Hamburg, Mettenhof in Kiel sowie Emmertsgrund in Heidelberg.

Städtebaulich beginnt die Ausstellung mit dem Wiederaufbau zerstörter Blockränder in Hamburg 1950; der architektonische Parforceritt schließt in den 1980er Jahren mit postmodernen Blockrandbebauungen bis hin zur Ökosiedlung Dokumenta Urbana in Kassel. Dazwischen liegen realisierte Großprojekte und geplante Trabantenstädte, die die heutige Architektursprache von Büros wie Zaha Hadid oder UN Studio weit vorweggenommen haben.

Die Neue Heimat nahm immer den Zeitgeist auf und beauftragte die renommiertesten Architekten. Ein besonderes Highlight der Ausstellung sind die 21 zeitgenössischen Videointerviews. Im 100ten Jubiläumsjahr des Bauhauses sind die Originalpläne und das gesprochene Wort z. B. von Architekten wie Ernst May von besonderer Aktualität.

Foto: Frank Kaltenbach

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