04.05.2015 Jakob Schoof

Unauffälliger Störenfried: NS-Dokumentationszentrum in München

Fast 70 Jahre nach Kriegsende hat München nun endlich einen Ort der Erinnerung an die nationalsozialistischen Gräuel erhalten. Der Neubau von Georg Scheel Wetzel Architekten tanzt aus der Reihe – und tritt doch völlig in den Hintergrund gegenüber den Inhalten, die in der Ausstellung vermittelt werden. Architekt: Georg Scheel Wetzel Architekten
Standort: Brienner Straße 34, 80333 München

Foto: Jens Weber

Das Münchener Kunstareal ist ein eigenartiger Ort. Undefinierbare Grünräume umgeben Solitärbauten ohne Bezug zueinander oder zu dem rechtwinkligen Straßenraster der Münchener Maxvorstadt. Wenn der Städtebau des Quartiers (und einige seiner Bauten) nicht schon auf die Zeit Leo von Klenzes zurückgingen, könnte man meinen, hier hätten die Stadtplaner der Nachkriegszeit mitten im so konservativen München ihren Fantasien freien Lauf gelassen. Die »duofunktionale« Nutzung aus Museen und Hochschulbauten trägt das Ihre dazu bei, dass dem Quartier fehlt, was der dänische Stadtplaner Jan Gehl so treffend als »Leben zwischen Häusern« bezeichnet. Vor zwei Jahren hat die Stadt München daher ein Bürgergutachten initiiert, um das Kunstareal lebenswerter und zugleich touristengerechter zu gestalten.

Ein Solitär unter Solitären
Der Neubau des NS-Dokumentationszentrums von Georg Scheel Wetzel Architekten schreibt die Grundstruktur des Quartiers – und dessen Dilemma – mit gleichen Mitteln fort. Die Berliner Architekten haben einen weiteren selbstbezogenen Solitär entworfen, exakt würfelförmig mit 22,50 Metern Kantenlänge. Er sucht weder in der Höhenentwicklung noch mit seinem Material – weiß gefärbter Sichtbeton – die Korrespondenz mit seinen Nachbarn. »Neutral« ist wohl die meist gebrauchte Vokabel, wenn man mit Planungsbeteiligten und Besuchern über den Neubau spricht.

Foto: Jens Weber

Viel Raum für die Vergangenheitsbewältigung
2008 hatte die Stadt einen Realisierungswettbewerb für den Neubau ausgelobt, das allen voran ein Ort des Lernens sein sollte. Die Entwürfe, die seinerzeit in die Endrunde gelangten, zeichneten sich durch eine bemerkenswerte Uniformität aus: allesamt Solitärbauten, zumeist würfelförmig und weitgehend ohne sichtbare Bezugnahme zur Umgebung oder zur Historie des Standorts. Eine Dominante im Stadtraum hätten sie alle gesetzt, zumal das Raumprogramm für das neue Dokumentationszentrum nicht eben sparsam bemessen war. Vier Ausstellungsebenen umfasst der Neubau jetzt, dazu ein Erdgeschoss mit Empfang und kleinem Buchladen sowie Büros und Sitzungsräume im obersten, dem fünften Obergeschoss. Zudem sind sowohl der Würfel als auch sein gepflasterter Vorplatz im Westen zwei Geschosse tief unterkellert. Hier unten sind die Garderoben, ein Lesesaal sowie ein Auditorium für 200 Zuhörer untergebracht.

Ein außermittig platzierter, ebenfalls fast quadratischer Erschließungskern unterteilt jede Ausstellungsebene in zwei L-förmige Bereiche: einen schmalen, korridorartigen im Nordosten sowie einen deutlich breiteren im Südwesten. Dort verknüpfen jeweils zweigeschossige Lufträume an den Gebäudeecken die Ebenen miteinander. Diese sind auch am Außenbau durch Über-Eck-Verglasungen mit lamellenartigen Fassadenstützen ablesbar.

Schnitt

Doch die gestalterische Nähe zum investorenfinanzierten Bürobau passt durchaus ins Konzept. Denn Weißbeton hin, Störfaktor her – im Mittelpunkt sollte nach dem Willen der Initiatoren jederzeit der Inhalt stehen, nicht das Gebäude. Die Innenräume sprechen davon Bände. Handwerklich ist an ihrer Gestaltung nichts zu kritisieren: Die Räume sind teils recht niedrig, aber doch ausreichend großzügig bemessen. Die Betonoberflächen sind makellos geschalt; Wände, Decken und die hellen Estrichfußböden erscheinen wie aus einem Guss. Die Säle in den Untergeschossen erhielten Vertäfelungen und Regale aus Eichenholz.  

Doch diese gefällige, bis aufs Äußerste neutrale Gestaltung führt eben auch dazu, dass die Räume keinerlei Überraschungsmomente beinhalten. Die einzige Ausnahme ist der Lesesaal im ersten Untergeschoss, der sich als verglaste Galerie U-förmig um das noch eine Etage tiefer liegende Auditorium legt.

Foto: Stefan Müller

Foto: Jens Weber

Frontalunterricht im Stil eines Lehrbuchs
So dreidimensional verschachtelt die Innenräume sind, so zweidimensional ist die Dauerausstellung angelegt. Sie beginnt im vierten Obergeschoss im Jahr 1918 und führt, streng chronologisch gegliedert, hinunter in den ersten Stock und in die heutige Zeit. Ihr inhaltlicher Fokus liegt klar auf München. Damit ist ihr Betrachtungswinkel zugleich räumlich enger und zeitlich weiter als jener der meisten NS-Dokumentationen. Bei der Gestaltung vertrauten Winfried Nerdinger und seine Mitarbeiter allein auf die Kraft von Wort und Bild. Auf Leuchtkästen und -tischen sammelt sich eine schier unglaubliche Menge an Erläuterungstexten, Fotos und Reproduktionen von Schriftstücken. Dazu kommen Filmprojektionen und animierte, digitale Karten, aber keinerlei Originaldokumente oder dreidimensionale Ausstellungsstücke.

Ein gewisses Gespür für die effektvolle Inszenierung ihrer Inhalte haben die Ausstellungsgestalter durchaus bewiesen. So platzierten die die eindrucksvollsten Fotografien stets im Großformat am Fuß der Treppen, die der Besucher hinabschreibet: hier einen jüdischen Rechtsanwalt, den die SS am Tag nach der Machtergreifung, seiner Beinkleider beraubt, durch die Straßen Münchens trieb. Und dort ein Trupp Neonazis, der am Tag nach dem Tod von Rudolf Heß 1987 Mahnwache in der Münchener Feldherrnhalle hält. Dennoch wird man beim Museumsrundgang den Eindruck nicht los: Diese Ausstellung hätte vermutlich ebenso gut auch als Buch funktioniert, zumal ihr inhaltlicher Reichtum das Zeitbudget des durchschnittlichen München-Touristen ohnehin überfordern dürfte. Wer diesbezüglich die Probe aufs Exempel machen möchte, dem stehen sowohl ein Kurzführer als auch ein 624-seitiger Mammutband zur Verfügung, in dem sämtliche Bilder und Texte aus der Ausstellung nebst 23 Aufsätze von Historikern versammelt sind.

Foto: Jens Weber

Ortsbezug nur im Erdgeschoss
Eines ist freilich durch kein Buch der Welt zu ersetzen: die Authentizität des Ortes, der mehr als nur zwölf Jahre lang zu den Schaltzentralen des nationalsozialistischen Machtstrebens gehörte. Winfried Nerdinger wird denn auch nicht müde zu betonen, wie wichtig ihm der Außenbezug der Museumssäle war und ist. Leide wird die Aussicht im wahrsten Wortsinne ziemlich getrübt, denn die Museumsleitung ließ – wohl aus konservatorischen und thermischen Gründen  halbtransparente Gewebevorhänge innen vor den Lamellenfenstern anbringen. Dahinter verschwimmen der Königsplatz, die benachbarten, noch erhaltenen Nazi-Bauten (die heute als Musikhochschule und Haus der Kulturinstitute dienen) und das restliche Stadtpanorama zu schemenhaften Silhouetten.

Wirklich spürbar wird der Bezug zur Außenwelt lediglich im (unverschatteten) Erdgeschoss und auf dem Vorplatz. Er stellt die Verbindung her zwischen dem Museumsneubau und dem Sockel des einstigen Ehrentempels gegenüber, der jahrzehntelang von Bäumen überwuchert war und den Museumsdirektor Nerdinger nun wieder freilegen ließ. Seine Grundfläche und Bauflucht entsprechen fast genau jenen des Weißbetonwürfels von Georg Scheel Wetzel. Uns so liefert die Geschichte dann doch noch einen Erklärungsansatz für die Gestaltung des Neubaus, die auf den ersten Blick so rätselhaft erscheint wie vieles, was in den vergangenen 100 Jahren rund um den Königsplatz gebaut und wieder abgerissen wurde.
Doch was ist überhaupt ein »neutrales« Gebäude, erst recht an diesem Standort, an dem im Dritten Reich die Parteizentrale der NSDAP stand? Mehr als 60 Gebäude hatten die Nationalsozialisten im Umkreis des Münchener Königsplatzes in ihren Besitz gebracht. Sie hatten, den Platz selbst mit einer quadratmetergroßen Steinpflasterung in einen »Plattensee« für Aufmärsche verwandelt und direkt neben ihrem Hauptquartier einen »Ehrentempel« zum Gedenken an die Putschisten errichtet, die 1923 während des misslungenen Hitler-Putsches ihr Leben gelassen hatten.

Die einstige »Hauptstadt der Bewegung« ist spät dran mit ihrem Dokumentationszentrum, wie inzwischen auch führende Stadtpolitiker zugeben. Exakt 70 Jahre, nachdem die »Rainbow Division« der U.S. Army München eingenommen hat, ist das Dokumentationszentrum nun endlich eingeweiht worden. Sein Bau ist im Wesentlichen das Verdienst von Winfried Nerdinger, dem emeritierten Architekturhistoriker und früherem Leiter des Architekturmuseums der TU München. Die 28 Millionen Baukosten teilen sich der Bund, das Land Bayern und die Landeshauptstadt München.

Foto: Jens Weber

Störfaktor im Business-Outfit
Als »städtebaulich störenden Akzent« bezeichnete Winfried Nerdinger den Neubau kurz vor seiner Einweihung. In der Tat wirken seine aus der Bauflucht gerückte Position und seine städtebauliche Selbstbezogenheit irritierend. Für Irritationen sorgt aber auch seine Gestaltung: Schon vor vier Jahren haben BRT Architekten nur zwei Kilometer entfernt die Zentrale eines großen Wirtschaftsprüfungsunternehmens realisiert, die auf den ersten Blick wie der »größere Bruder« des jetzigen Neubaus wirkt. Zufall? Falls ja, ein überaus unglücklicher.

Der »große Bruder« des Dokumentationszentrums, das Bürogebäude »Skygarden«, steht seit vier Jahren an der Münchener Hackerbrücke unweit des Hauptbahnhofs. Foto: Jakob Schoof

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