15.08.2010 Jakob Schoof

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

„Nachhaltigkeit“ kann heutzutage alles heißen – oder eben nichts (mehr). So scheint es zumindest. Nun hat der Publizist Ulrich Grober in einem bemerkenswerten Buch die Begriffs- und Ideengeschichte der Nachhaltigkeit aufgezeichnet und dem oft missbrauchten Wort neue Bedeutung eingehaucht.
Es fehlt eigentlich nur noch, dass Nachhaltigkeit eines Tages zum „Unwort des Jahres“ erklärt wird, so sehr ist die Verwendung dieses Begriffs inzwischen der Beliebigkeit anheimgefallen. Vor allem Politiker, Unternehmen und PR-Agenturen – die schon früher manches Unwort des Jahres kreiert haben – bedienen sich seiner in allen erdenklichen Zusammenhängen. Wie aber lässt sich dieses Wort, das ja eigentlich ein wesentliches Überlebenskonzept unserer Zivilisation beschreibt, überhaupt noch „retten“?

Man kann dies versuchen, indem man der Genese des Begriffs und der damit verbundenen Ideen nachgeht. Ulrich Grober hat dies getan – und mit „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ ein ebenso wichtiges wie längst überfälliges Buch geschrieben. Darin beleuchtet er sein Thema von zahlreichen Seiten: aus der Linguistik, der Literaturgeschichte, der Philosophie, vor allem aber aus dem Blickwinkel der Forstwirtschaft, in der der Begriff „Nachhaltigkeit“ im 18. Jahrhundert erstmals explizit verwendet wurde.

Grobers Buch ist geschrieben, wie man es von einem guten Journalisten erwarten darf: anschaulich, kurzweilig und meinungsfreudig, ohne den Leser zur eigenen Weltanschauung bekehren zu wollen. Indem Grober in seinem Buch eine Vielzahl an Fürsprechern und Vordenkern der Nachhaltigkeit anführt, gelingt es ihm dennoch, die Notwendigkeit, ja Dringlichkeit nachhaltigen Denkens und Handelns zu vermitteln. Er macht seine Leser mit den (wie er sie nennt) „Urtexten“ der Nachhaltigkeit – vom „Sonnengesang“ des Franz von Assisi bis zu Rachel Carsons „Silent Spring“ - vertraut, führt ihn ins Denken wichtiger Philosophen wie Descartes und Spinoza ein und zitiert Nachhaltigkeitsdefinitionen unterschiedlicher Epochen.

Was genau bedeutet nun der Begriff „nachhaltig“ oder englisch „sustainable“? Grober übersetzt ihn einmal mit „tragfähig“, gibt jedoch auch zu erkennen, dass er lange Zeit (und vielfach bis heute) lediglich die Bedeutung „langfristig“ trug. Eine weitere Definition steht in dem 1809 erschienenen „Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Joachim Heinrich Campe: Dort wird „Nachhalt“ als das beschrieben, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält“. Eigentlich eine schöne Metapher für den „Nachhaltigkeitsdiskurs“ heutiger PR-Strategen, die den Nachhaltigkeitsbegriff ja oftmals gerade nicht im Sinne eines „Nachhalts“, sondern als etwas Vorgeschobenes und notfalls Entbehrliches verwenden.

Vier wichtige Erkenntnisse lassen sich aus Grobers Buch ziehen: Erstens ist die Nachhaltigkeitsdiskussion uralt, und fast alle Nachhaltigkeitsfragen, mit denen sich unsere Gesellschaft heute befasst, waren in abgewandelter Form schon in der Vergangenheit virulent. Zweitens: Nachhaltigkeit bedeutet tatsächlich „etwas“, hat aber in der Historie so viele Bedeutungen gehabt, dass seine derzeitige beliebige Verwendung fast schon logisch erscheint. Drittens: Nachhaltigkeit war immer dann und dort Kern des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, wo Zivilisationen ihren Lebensraum und die verfügbaren Ressourcen als begrenzt begriffen haben. Dies war zum Beispiel im kameralistischen Wirtschaftssystem des deutschen Spätbarock der Fall, also nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs und vor der massenhaften „Entdeckung“ fossiler Energieträger. Und, viertens: Nachhaltigkeit ist mehr als nur die Begrenzung des Klimawandels. Im Gegenteil kann eine zu starke Fokussierung auf das Klimaproblem und die Anwendung zweifelhafter CO2-Vermeidungsstrategien (massenhafter Anbau von Energiepflanzen, unterirdische CO2-Abscheidung) den Nachhaltigkeitsbemühungen als Ganzes sogar schaden.

Sucht man nach Schwächen in Grobers Buch, so wäre neben der nicht immer korrekten Schreibweise von Eigennamen vor allem die gelegentliche Sprunghaftigkeit zu nennen, die es nicht immer leicht macht, bei der Fülle der Namen, Schauplätze und Dokumente den Überblick zu erhalten. So erläutert Grober erst ausführlich die Entstehung des Nachhaltigkeitsdenkens in der deutschen Forstwirtschaft, startet dann einen längeren Exkurs über die Nutzung fossiler Energien und der Atomenergie, um danach doch wieder auf die Forstwirtschaft und deren Entwicklung im europäischen Ausland zurückzukommen.

Zum Ende des Buchs gibt Grober dem Leser einen „Lackmustest“ zur Beurteilung der Nachhaltigkeit von Maßnahmen, Produkten (und wenn man will, auch Gebäuden) auf den Weg. Dieser umfasst zwei Fragen:
1. Reduziert sich der ökologische Fußabdruck?
2. Steigt – für jeden frei zugänglich – die Lebensqualität?

Was von Grobers Buch bleibt, ist ein Gefühl großer Bereicherung, aber auch tiefe Skepsis: Wenn Nachhaltigkeit wirklich schon so lange eingefordert und diskutiert wird, weshalb macht die Menschheit dann bei ihren Bemühungen so wenig Fortschritte? Und wenn das neoliberale Denken der 80er- und 90er-Jahre die Nachhaltigkeitsbemühungen so spürbar zurückgeworfen hat, wie es Grober in seinem Buch belegt, ist dann Nachhaltigkeit überhaupt mit dem „Stabilität versprechenden Paradigma“ (Grober) des Wirtschaftswachstums vereinbar?

Antworten auf diese Fragen wird wohl allenfalls die Zukunft geben. Grober rät denn auch dazu, Nachhaltigkeit weiterhin als „Experimentierfeld“ zu begreifen. Sein Credo lautet, in Anlehnung an den Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen: „Keep the options open!“

Diese Maxime erweist sich derzeit immer wieder als der zweckmäßigste Ratschlag, der den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft, aber auch jedem Einzelnen – und jedem Bauherrn und Architekten – mit auf den Weg gegeben werden kann.

Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kunstmann Verlag 2010. 300 Seiten, 19,90 €. ISBN 978-388897648.
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