29.11.2012 popp@detail.de

Dreidimensionales Puzzle: Archiv- und Bibliotheksgebäude in Montpellier

Text und Fotos: Frank Kaltenbach »Das Konzept von »pierresvives« ist eines der ambitioniertesten und umfassendsten Versuche dynamische und fließende Räume zu schaffen, die wir je unternommen haben. Hier verschmelzen geometrische Komplexität, ein ausgeklügeltes Tragwerkskonzept und der innovative Einsatz von Materialien. Es ist aber nicht nur die Form und die Konstruktion, die uns an einem Gebäude interessieren, sondern neue Möglichkeiten der Nutzung. Wir mussten sicherstellen, dass dieser große Komplex klar und effizient organisiert ist.« Zaha Hadid fasst sich in Ihrer gewohnten Form kurz, als Sie das Band der Tricolore durchschneidet, um das neue Archiv- und Bibliotheksgebäude in Montpellier zu eröffnen. Architekten: Zaha Hadid Architects, Blue Tango, Chabanne & Partenaires
Standort: F-34000 Montpellier

Ein Moment auf den nach 10 Jahren Planungs- und Bauzeit alle gewartet haben: Zaha Hadid zerschneidet die Tricolore und übergibt das Gebäude den Nutzern.

Wer dem Gebäude nahe kommt fragt sich, wie die perfekt gekrümmten scharfen Kanten geschalt wurden, wie die glatte Oberfläche ohne Löcher für Spannschlösser hergestellt werden konnte und wie man so einen Bau ohne sichtbare Dehnfugen bauen kann. Mit Ortbeton ist das nicht zu machen, doch auch für Betonfertigteile gibt es optisch fast keine Anhaltspunkte, die Fugen sind flächenbündig in der Betonfarbe ausgeführt. Dennoch handelt es sich in großen Teilen nicht um einen massiven Stahlbetonbau, sondern um eine Skelettkonstruktion, die mit Betonfertigteilen bekleidet wurde. An den Betonoberflächen lassen sich nur subtil die Elementbreiten von 2,70 m als zarte Streifen ablesen. Durch die Höhe der Fertigteile von 12 - 15 m und durch die Krümmungen, die ohne Trennfuge an die ebenen Abschnitte als ein Element betoniert sind, ensteht kein modularer Charakter, die Baukörper wirken wie monolithische Massen.

Für die Schalungen wurden verschiedene Materialien verwendet: die Basisschalung für ebene Flächen besteht aus Stahl, leichte Krümmungen wurden in Stahl und Holz geschalt. Für komplexe, doppelt gekrümmte Formen sind Epoxidharz beschichtete Polystyrolkörper in die Basisschalung eingelegt. Nachdem der Beton in die Schalungen gegossen wurde, wird das noch flüssige Fertigteilelement in der Schalung auf dem Rütteltisch in Vibrationen versetzt, damit eingeschlossene Luftblasen austreten können und die Oberflächen perfekt geschlossen sind.

Die scharfen gekrümmten Kanten der Fertigteile wurden mit Schalungen aus Stahl, Holz und Epoxidharz beschichtetem Polystyrol hergestellt.

Krümmungen und ebene Abschnitte wurden als ein Fertigteil am Stück ausgebildet.
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Foto: Delta Prefa

Foto: C. Cieutat © Delta Prefa

Foto: Delta Prefa

»Wir wollten dass pierresvives wirklich zu einer Landmarke wird. Heute im digitalen 21. Jahrhundert ist das Leben flexibel und globalisiert geworden und wir haben es mit wesentlich komplexeren Sozialstrukturen zu tun als im industriellen 20. Jahrhundert. Meiner Meinung nach sollten Städte nicht wie Venedig unverändert bleiben ohne jede Entwicklung. Es ist wichtig, zeitgenössische Gebäude zu implantieren. Die Art und Weise muss aber wohl überlegt sein, pierresvives fügt sich perfekt in die städtebauliche Umgebung ein. Architektur hat die Aufgabe, Grenzen zu überschreiten und die Grenzen des Machbaren zu verschieben – und ich bin der Überzeugung, dass pierresvives ein exzellentes Beispiel dafür ist.« (Zaha Hadid)

Zaha Hadid bei ihrer knappen aber emotionalen Eröffnungsrede.

Das komplexe Raumprogramm aus dem riesigen Archiv der Region Hérault, einer Bibliothek,  einem Auditorium, Ausstellungsräumen, Foyers und Büros mit insgesamt 26 000 m² Nutzfläche ist auf fünf Geschosse verteilt. Der plastisch durchgebildete Baukörper entwickelt sich aus einem Kubus mit 196 m Länge, 46 m Breite und 24 m Höhe. Der Riegel ist in einen Sockel, einen breiten Glasschlitz als Piano Nobile mit den öffentlichen Nutzungen und in ein Paket aus darüber liegenden Büro- und Archivräumen unterteilt. Diese vertikale Dreiteilung verläuft freilich nicht strikt horizontal, die Teile sind durch Diagonalen miteinander verzahnt.  Im Süden liegt in dem weiträumigen Glasschlitz zwischen Sockel und den Obergeschossen mit der Bibliothek der öffentlichste Raum. Wie der Bug eines Kreuzfahrtschiffes ist hier der Baukörper abgeschrägt, als Geste zur zukünftigen offenen Parklandschaft hin.

Südostseite, rechts die Anlieferung und Parkplätze.

Südfassade, im Schiffsbug befindet sich die Bibliothek mit Blick auf den Park.

Blick von Süden auf die Westfassade mit dem auskregenden Auditorium über dem Haupteingang.

Blick von Norden auf die plastisch durchgebildete Ostfassade mit Rampen für die Anlieferung.

Ostfassade zum Parkplatz: der nördliche Teil der Ostfassade mit den Archivräumen ist glatt, der Anlieferungsbereich als eingezogene Loggia tritt in der Gebäudeflucht kaum in Erscheinung.

Ostfassade südlicher Abschnitt: hier tritt eines der dreidimensionalen Puzzleteile als Anlieferung aus der Gebäudeflucht hervor. An dieser Stelle liegt im ersten Obergeschoss die zentrale, durch den gesamten Riegel durchgesteckte Halle.

Westfassade: das kühn aus der ebenen Gebäudeflucht auskragende Auditorium weist schon von weitem auf den Haupteingang hin.

Ostfassade: hier schirmt ein herausgeschobenes Puzzleteil den Außenbereich der Ausstellungsfläche im Erdgeschoss gegen den Parkplatz ab.

Ostfassade: Frontal gesehen erscheint der plastische Baukörper flächig. Die geschwungene Gestaltung des Parkplatzes im Grundriss entspricht den Linien des Gebäudes im Schnitt.

Die Betonfertigteile sind mit Regentropfrinne und innen liegender Entwässerung versehen, um Schlieren zu vermeiden.

Die Fugen der 2,70 m breiten und bis zu 15 m hohen Fertigteile sind gechlossen verfugt und dezent.

Haupteingang unter dem Auditorium von Süden

Haupteingang frontal von Osten

Das Auditorium kragt 12 m über die Längsflucht der glatten Westfassade aus. Die große statische Herausforderung lösten die Ingenieure von Arup mit einer starken Ortbetondecke und zwei Stahlbetonwänden, die wie Schotten als wandhohe Träger die Auskragung zum Gebäudekern hin verankern. Das kühn aus der ebenen Flucht der Westfassade auskragende Auditorium weist schon von weitem auf den Haupteingang hin und dient als üppiges Vordach und Auftakt zu einer »promenade architecturale« diagonal durch das Gebäude bis zur Dachterrasse.

Vom niedrigen Foyer zieht die Rolltreppe den Besucher diagonal ins Zentrum des Gebäudes.

Der Neigungswinkel der Rolltreppen bildet den Ausgangspunkt für alle Schrägen im Gebäude.

Das Auditorium zeigt sich im Innern als lange Betonwalze quer durch das gesamte Gebäude hindurchgesteckt.

Zentrale Halle: Durch einen Durchstich in der Betonwalze gelangt man zu Auditorium, Bibliothek und der Himmelsleiter auf die Dachterrasse.

Auditorium mit 210 Sitzplätzen: Bei geöffneter Verdunkelungsanlage wird der Blick wie durch einen Augenschlitz auf den neu geschaffenen Platz des zukünftigen Stadtquartiers frei.

Blick vom Steg der oberen Auditoriumsebene in den Backstage-Bereich auf der unteren Ebene des Auditoriums.

Ausgänge des Auditoriums in die Bibliothek. Das vertikale Stützenraster überschneidet sich an vielen Stellen mit den diagonalen Flächen.

Kinderbereich in der Bibliothek mit Blick auf den Park.

Wie ein Puzzleteil ist dieser Raum aus der Ostfassade herausgeschoben: Nebenraum zu Bibliothek, Halle oder Auditorium. Auch vor den schrägen Wänden ist das Stützenraster als Diagonalstreben sichtbar.

Studiensaal des Archivs nördlich der zentralen Halle. Decke mit intergrierter Beleuchtung und Akustikperforation.

Besonders im Studiensaal dominiert das Stützenraster den Raum.

Studiensaal des Archivs, Innenarchitektur von Stéphane Hof, der bei Zaha Hadid Architects Projektarchitekt des gesamten Gebäudes war.

Hinterleuchtete Regale aus mineralischem Acrylwerkstoff.

Die Treppe von der Bibliothek zur den Obergeschossen.

Als interne Himmelsleiter setzt sich die breite Treppe mit Sitzstufen für die Bibiotheksbesucher nach oben fort.

Der Blick aus den oberen Geschossen über den Parkplatz zum Stadtzentrum Montpelliers erinnert an den Blick aus einem Flugzeug.

Durch Lichtreflexe und haptische Materialien werden die engen langen Flure zu spannungsreichen Erlebnisräumen.

Blick nach oben im Treppenhaus zwischen den Archivgeschossen.

Den Ausgangspunkt des gesamten Projekts und Kern des Gebäudes bilden die Bücherdepots der Archivräume. Insgesamt 35 Kilometer Regalfläche, das gesamte Archiv des Departement Hérault kann hier gespeichert und wissenschaftlich ausgewertet werden.

Die Archive befinden sich in Kuben aus Ortbeton im Zentrum des Gebäudes. So sind die Bücher sicher vor UV-Strahlung und Bränden und die Räume können nach den jeweiligen Erfordernissen klimatisiert werden. Wie bei einer Zwiebel legt sich eine Raumschicht aus Büros um sie herum, die an den Fassaden mit Tageslicht versorgt werden. Als das Projekt pierresvives 2002 lanciert wurde war das Archiv, das bisher in verschiedenen Altbauten über ganz Montpellier verstreut war, der Auslöser des Projekts. Durch die Zusammenlegung unterschiedlicher kultureller Nutzungen ist ein Zentrum für das neue Stadtquartier entstanden, das Zaha Hadid, Patrik Schumacher und ihr Team in eine unverwechselbaren Landmarke verwandelt haben. Dass die ursprünglich budgetierten 42 Millionen Euro in den 10 Jahren der Planung und Ausführung auf 125 Millionen angewachsen sind, zeigt die Komplexität des Projekts. Mit pierresvives hat Montpellier neben dem neuen Rathaus von Jean Nouvel und der Hotelfachschule von Massimiliano Fuksas allein in zwei Jahren drei weitere Highlights zeitgenösscher Architektur erhalten.  Gemeinsam mit der postmoderen Trabantenstadt Antigone von Riccardo Boffil ist Montpellier nicht mehr nur die am schnellsten wachsende Stadt Frankreichs, sondern nun auch für Architekten eine Reise wert.

Flurbereich zwischen innenliegenden Bücherdepots des Archivs (rechts) und umliegenden Büros entlang der Fassaden (links).

Die interne Treppe zwischen den Archivgeschossen wirkt mit ihrer geschlitzten Untersicht etwas manieristisch.

Flur innerhalb der Archivdepots. Die Winkel im Grundriss der Flure sind notwendig, um die Bücherwagen trotz der engen Flurbreiten in die Türen manövrieren zu können. Farbige Leitlinien auf Böden und Türen sorgen hier für Orientierung und optische Dynamik.

Der eigentliche Kern des gesamten Gebäudes: Bücherdepot mit Klapptischen in den Archivräumen.

Nach Norden zur dichten Bebauung hin zeigt sich der plastische Baukörper kubisch und geschlossen. Hier sind die Archivräume übereinander gestapelt. Im südlichen Teil löst sich diese Geschlossenheit zunehmend zu einer plastischen Skulptur hin auf. Seitlich schieben sich überall dort, wo das Gebäude sich öffnen soll, Baukörper aus dem Riegel heraus, wie dreidimensionale Teile eines Puzzles. Einschnitte und Ausbuchtungen schaffen nicht nur einen interessanten Baukörper, sondern auch komplexe Raumfolgen im Inneren.

Blick von Norden auf die Westfassade. Mit den gestapelten Archivräumen zeigt sich das Gebäude von Norden als kubischer und glatter Riegel zur Nachbarbebauung.

Eine weitere Herausforderung stellt die Montage dar: die 16 cm dicken Betonschalen sind fragil und mussten auf der Rückseite mit Rippen versehen oder zum Transport mit Stahlträgern verstärkt werden. Um die Elemente exakt in einer Flucht am Rohbau zu positionieren, wurden je 10 Betonfertigteile in einer Reihe auf je einem Hydraulikheber ausgerichtet und durch den Vermesser in allen drei Richtungen exakt einjustiert, bevor sie an der Stirnseite der Geschossdecken vor der 10 cm starken Wärmedämmung fix verankert und verfugt wurden. Untereinander und an den Fensteranschlüssen sind die Elemente wasserdicht abgedichtet und verfugt. Alle Betonoberflächen sind hydrophobiert und die zugänglichen Bereiche im Erdgeschoss mit einer Anti-Graffitti-Beschichtung versehen.

Fotos: C. Cieutat © Delta Prefa

Einen Projekt-Bericht lesen Sie auch in unserer aktuellen Ausgabe DETAIL 2012/11
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