01.11.2012 Cordula Vielhauer

Freiheit für die grauen Zellen! Die Orgatec 2012 zeigt uns eine intelligente Arbeitswelt

Nein, wir wollen hier nicht das Ende des ohnehin fast ausgestorbenen Zellenbüros feiern. Vielmehr war die offene, halbhohe, flexible Zelle als organische Einheit auf der diesjährigen Büromöbelmesse Orgatec 2012 äußerst präsent: Als kleine Schwester der seit einigen Jahren erfolgreichen Raum-in-Raum-Systeme für das Großraumbüro, als modular wuchernde Einheit organischer Sitzlandschaften, als einzelliger Rückzugskokon für die konzentrierte Einzelarbeit oder das Telefonat. Die organische Zelle scheint – in individuellen Morphologien – die Antwort auf die großen Trends der Arbeitswelt zu liefern: Digitalisierung, Wohnlichkeit, Mobilität, Flexibilisierung. Doch so ganz verschwunden sind Tisch und Stuhl noch nicht aus der schönen bunten Arbeitswelt, die man auf der diesjährigen Orgatec erleben konnte. 

System "Workbay" von Vitra (2012, Design: R. + E. Bouroullec)

Raum-in-Raum-System "Alcove" von Vitra (Design: R. + E. Bouroullec)

System "Scope" von COR (Design: Uwe Fischer)

System "Docklands" von Bene (2012)

Es ist nicht aufzuhalten, das erfolgreiche junge Paar aus Digitalisierung und Mobilität mit seinem Nachwuchs, der Flexibilisierung. Auch auf der Orgatec 2012 war das offensichtlich. Während viele Büromöbelhersteller noch damit beschäftigt sind, gewaltige Medien- und Kommunikationssysteme mit entsprechenden Konferenztischen und Präsentationsmodulen zu verheiraten, folgt manch cleverer Unternehmer bereits dem Trend mobiler Vernetzungsmöglichkeiten – und wird dabei selbst zum Programmierer: Da werden eigene Apps kreiert oder ganze Wände zum digitalen Whiteboard erklärt. Exemplarisch seien hier die Neuheiten der Hersteller Interstuhl und Bene genannt. Interstuhl setzt mit seiner PadShare App auf das iPad und andere Tablet-PCs als ständig verfügbare Arbeitsgeräte – auch auf Konferenzen. Vorbei die Zeiten, in denen man wertvolle Meetingminuten mit dem Verkabeln von Präsentationsgeräten verlor. Nun können mehrere Konferenzteilnehmer gleichzeitig an einem Dokument arbeiten oder Audiodateien in unterschiedlichen Sprachen verfolgen – und am Ende das Ergebnis mitnehmen.

"NiCE Wall" von Bene (2012)

"Mediaroom" von Bene (2012)

In eine etwas andere Richtung geht Bene mit der NiCE Wall: Auf der gemeinsam mit der Fachhochschule Hagenberg entwickelten digitalen „Leinwand“ kann jeder Teilnehmer mittels eigens entwickelter Stifte „schreiben“ oder auch „zeichnen“– ein User-Interface, das analoge und digitale Medien miteinander verknüpft und Besprechungs- und Brainstorming-Ergebnisse für jeden Teilnehmer umgehend elektronisch verfügbar macht. Dennoch setzt man auch bei Bene auf die Weiterentwicklung und Optimierung der klassischen Medientechnik für Konferenzräume: MediaRoom ist ein Komplettpaket für die Integration sämtlicher technischer Infrastruktur in Abstimmung mit Raum und Möblierung.
Technischer Fortschritt und Digitalisierung sind die Treiber der Flexibilisierung unserer Arbeitswelt – und die spiegelt sich im Büro von heute. Denn die höhere Technifizierung, die ständige Erreichbarkeit per mobile Device führt dazu, dass fast jeder Ort zum postindustriellen Arbeitsplatz werden kann. Und deshalb muss dieser Arbeitsplatz auch nicht mehr nach Arbeit aussehen. Die Flexibilisierung hebt die klassischen typologischen Zuweisungen auf: Die Dichotomie von Einzelbüro und Großraum ist passé. Das Büro wird zur Landschaft, die – einem Städtebau gleich – zoniert ist in Marktplatz-ähnliche Kommunikationszonen, Rathaus-artige Konferenzräume, Werkstatt-hafte Einzelarbeitsplätze, Park-artige Erholungsstätten und wohnliche Rückzugsbereiche.

System "Small Rooms" von Offecct (2012, Design: Ineke Hans))

Als Möblierungslösungen bieten die großen Hersteller inzwischen diverse Systeme für diese unterschiedlichen Typologien an. Sie lassen sich grob differenzieren in klassische stationäre Arbeitstische, großformatige Raum-im-Raum-Systeme, zellulare Semi-Cubicles, Kokons und Sitzlandschaften.

System "Docklands" von Bene (2012)

Doch wie in jeder „Stadt“ sind auch nicht alle „Bürger“ gleich – den Begriff des „Citizen Office“ prägte Vitra bereits in den neunziger Jahren. Anhand von Studien, die die Hersteller meist mit renommierten Hochschulen erstellen, werden unterschiedliche Typen von Wissensarbeitern identifiziert: Je nachdem, ob man sich an urbanen oder nautischen Parametern orientiert, tragen sie Namen wie „Residents“ und „Nomads“, „Navigators“, „Connectors“ oder „Anchorers“. Während ein „Resident“ also doch noch die meiste Zeit am Schreibtisch verbringt und der „Connector“ die besten Antennen für den Flurfunk hat, kreuzt der „Navigator“ durch die stürmischen Gefilde des Marktes, und legt nur mal kurz – zum Checken seiner E-Mails vor einem wichtigen Meeting – in den „Docklands“ an (zellenartige, modulare Kurzzeitarbeitsplätze von Pearson Lloyd für Bene). Besonders auf diese neue Form der temporären konzentrierten Arbeit scheinen die zellularen Semi-Cubicles eben optimal zu antworten. Bei Vitra heißen sie übrigens „Workbay“ und wurden von den Bouroullecs entworfen. Die aus leichter und preiswerter Polyesterfaser gemachten Nischenräume können ebenfalls unterschiedlich gruppiert werden – zu Einzel- oder Doppelarbeitsplätzen. Die Tischplatte dient dabei der statischen Aussteifung.

Stuhl-Tisch von Prooff (2012)

"Workbay" von Vitra (2012)

Buzzi Me von Buzzi Space (2012)

Um der aussterbenden Spezies des „festen“ Mitarbeiters ihren stationären Arbeitsplatz schmackhaft zu machen, kann dieser heute stärker personalisiert und räumlich variiert werden: Modulare Systeme wie Cube_S von Bene bieten unterschiedliche Möglichkeiten der Tischanordnung sowie diverse Regalmodule, um verschiedene Grade von Offenheit oder Abschirmung zu gewähren, ähnlich funktioniert auch das Stauraummöbel Terri Tory von Sedus; und die Bench-Tische von Steelcase lassen sich unter anderem mittels tragbarer Mobile Caddys für private Utensilien erweitern. 

Stauraumsystem "Terri Tory" von Sedus (2012)

Arbeitsplatzsystem "Cube S" von Bene

Nahezu genial einfach ist das Kork Desk System, mit dem die Bouroullecs für Vitra experimentieren: Kork? Im Büro? Sicher, das ist zunächst nur eine Studie, doch das natürliche Material bietet viele Vorteile: Kork ist nachhaltig, schallabsorbierend, seine Funktion als Pinnwand ist uns seit Kindertagen vertraut, und dank der natürlich strukturierten Oberfläche eignet er sich geradezu exzellent für monolithisch komponierte Möbel, wie das dem Minimalismus von Donald Judd abgeschaute Kork Desk System. Es löst Wünsche nach Privatheit oder Offenheit nämlich räumlich und nicht systematisch: Eine Reihe von Arbeitsplätzen entlang eines langen Tischs wird mittels diagonal gesetzter Sichtschutzwände so abgeschirmt, dass immer ein Spalt frei bleibt. Allein die Sitzposition entscheidet nun, ob ich mich meinem Tischnachbarn für ein Gespräch zuwende oder ungestört in die Tasten haue.

Studie "Kork Desk" von Vitra (2012, Design: R. + E. Bouroullec)

Noch nicht genug zum Thema „neue Arbeitswelten“?
In unserem zweiten Teil zur Orgatec 2012 erfahren Sie mehr über Innovationen und neue Trends aus dem Bereich der Office-Sitzmöbelkultur.

(Cordula Vielhauer)

System "Parcs" von Bene

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