Gemeinsame Ideen / Common Ideas
Die Biennale-Beiträge von Steve Parnell (mit seiner Zusammenstellung von Architekturzeitschriften), Caruso St. Johns Pasticcio zu historische Anknüpfungen suchenden Architekten, Thomas Demands Auseinandersetzung mit Modellen, Toshiko Moris Genealogie architektonischer Detaillösungen, Fulvio Iraces Fassadenstudien, Cino Zucchis Schaukästen oder die von Diener + Diener zusammengetragenen Essays zu den einzelnen Pavillons der Giardini würden wir ebenfalls dazu zählen...
Diese Geschichte beginnt mit einer Leerstelle – nämlich mit dem Fehlen eines Namens: Als Reinier de Graaf (OMA/AMO) in den achtziger Jahren zum Arbeiten nach London kam, ging er täglich an einer Schule vorbei, der Pimlico School. Das 1970 fertig gestellte, dem Brutalismus zuzuordnende Gebäude faszinierte ihn, jedoch fand er beim Recherchieren nach einem Autor keinen Namen eines Architekten. Lediglich die Bezeichnung einer Behörde war in seinem Londoner Architekturführer zu lesen: Greater London Council Departement of Architecture and Civic Design (GLC). Damit begann für ihn das „Sammeln“ von Gebäuden, die er „Beamtenarchitektur“ nennt und die er auf der Biennale 2012 erstmals zeigt: Architekturbeispiele der sechziger und siebziger Jahre hat er zusammen getragen – aus fünf europäischen Ländern, von sechs verschiedenen Behörden. Diesen Gebäuden ist nicht nur die „Anonymität“ ihrer Autoren gemeinsam, sie sprechen auch alle eine ähnliche, äußerst robuste Formsprache: Es ist eine Architektur, die – anders als die eleganten fünfziger Jahre – nicht gefällig sein will, sondern die rau ist und karg und robust, und daher meistens aus Beton.
In Italien stieß de Graaf auf die Kirche San Giovanni Bono (1968), geplant vom Ufficio Technico del Commune di Milano, in Deutschland auf die zahlreichen Bauten Werner Düttmanns, der zwar als freier Architekt ein eigenes Büro führte, jedoch als Stadtbaurat und später als Senatsbaudirektor in West-Berlin immer auch „im Dienste des Staates“ tätig war: Die Kirche St. Agnes, die Akademie der Künste und das Brückemuseum werden im Rahmen von Public Works gezeigt. Dabei stellt man sich erneut die Frage, ob der in England geborene Brutalismus ein Architekturstil sei, der auch in anderen Ländern angetroffen werden könne. Die Tatsache, dass Düttmann einige Zeit als Kriegsgefangener in England lebte und später im Rahmen eines Stipendiums dort studierte, zeugt für de Graaf durchaus von einer Art Brutalismus-Export.
Aus Frankreich zeigt OMA/AMO vor allem die Bauten des Conceil du Ministére de la Reconstruction et de l’Urbanisme, so das Verwaltungszentrum in Pantin, die Architekturfakultät in Nanterre und die Präfektur von Val-d’Oise. Sorgfältig hat de Graaf Namen und teilweise Fotos der beteiligten Verwaltungsarchitekten recherchiert und sie so aus ihrer Anonymität gelöst. Zusammengehalten wird die Präsentation all dieser in Vitrinen und auf gläsernen Schautafeln dokumentierten Projekte durch ein den gesamten Raum umspannendes Wandpanorama, das den Untergrund der vom GLC geplanten Hayward Gallery (1968) in der Londoner South Bank zeigt. Den von Skatern in Beschlag genommenen Raum dominieren Graffiti und andere Spuren von Aneignung durch Teile der Öffentlichkeit. Dennoch oder gerade deshalb zeugen diese quasi-anonymen Bauten von einem großen Selbstbewusstsein der demokratischen Staaten und der Bauverwaltungen, in denen sie entstanden – und einem ebenso großen Vertrauen in die avantgardistische Architektur dieser Zeit.
De Graaf schildert dazu die bemerkenswerte Arbeitsweise des GLC: Hier waren zwischenzeitlich bis zu 3.000 Architekten beschäftigt, viele von ihnen waren sehr jung, es gab einen regen Austausch mit den Architekturschulen AA und der Cambridge Universität. Die einzelnen Planungseinheiten waren klein und ähnelten in ihrer Struktur freien Architekturbüros. Ein entscheidender Aspekt fehlte jedoch: Bauherr und Architekt waren hier in einer Verwaltung vereinigt, weshalb auch die Rolle des Bauherrn simuliert und einem Kollegen als „Einsatzleiter“ übertragen wurde. Strenge Hierarchien und Anweisungen „von oben“ fehlten, die Philosophie der Bauverwaltung formulierte Direktor Hubert Bennett wie folgt: „Neue Ideen wurden gefördert, auf allen Ebenen war das Üben von Phanthasie und Selbstdisziplin das Hauptcharakteristikum der Arbeitsweise.“ John Bancroft, den de Graaf als Architekten der Pimlico School identifizierte, war 28, als er die Schulbauabteilung des GLC übernahm. Er arbeitete bevorzugt im Malerkittel.
So groß waren Einfluss und Selbstbewusstsein des GLC und seiner Mitarbeiter, dass selbst Direktor Hubert Bennett den monolithischen Betonbau der South Bank nicht stoppen konnte, da er zu spät von dem Entwurf erfuhr. Ein Selbstbewusstsein, das nicht allen gefiel, ebenso, wie die brutalistische Formsprache der hier geplanten Architektur immer weiter in die Kritik geriet. Die liberalkonservative Thatcher-Regierung, die 1979 in Großbritannien an die Macht kam, schraubte den Einfluss des London Council Departement of Architecture and Civic Design (GLC) immer weiter zurück – bis zu seiner Auflösung im Jahr 1985.
OMA hatte in seiner vor zwei Jahren zur Biennale 2010 gezeigten Ausstellung Cronocaos in einer plakativen Grafik bereits einen Zusammenhang zwischen dem „Siegeszug der Freien Marktwirtschaft“ (OMA) und dem politischen Bedeutungsverlust von Architekten hergestellt: 1979 erschien das letzte Cover des Time Magazine mit einem Architekten auf dem Titelbild – Philip Johnson. Danach, so der damalige Kurator des OMA-Beitrags Rem Koolhaas, seien die Architekten zwar „immer prominenter, gleichzeitig aber immer unwichtiger“ geworden.
Im Jahr 2000 wurde in London zwar eine GLA Greater London Authority in Anlehnung an den GLC eingerichtet – nach einem Referendum der Labour-Partei. Dennoch endet diese Geschichte mit einer Leerstelle: Im Jahr 2008 wurde die Pimlico School trotz des vehementen Protests von John Bancroft und vielen Unterstützern abgerissen.
(Cordula Vielhauer)