17.05.2011

Gradientenwerkstoffe im Bauwesen

Herstellungsverfahren und Anwendungsbereiche für funktional gradierte Bauteile im Bauwesen

von Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Werner Sobek, Dr.-Ing. Walter Haase, Dipl.-Ing. Pascal Heinz, Dipl.-Ing. Michael Herrmann, Universität Stuttgart Funktional gradierte Bauteile weisen eine kontinuierliche Eigenschaftsänderung in ihrem Querschnitt auf. Die Gradierung ermöglicht eine höhere Materialeffizienz, wobei die Materialkomposition den lokalen Anforderungen angepasst wird. Das Ziel des Forschungsvorhabens des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) an der Universität Stuttgart ist es, das Konzept der funktionalen Materialgradierung auf das Bauwesen zu übertragen.

Retikulierter Polyurethan-Schaum in Polyester-Gießharz-Dichtegradient

Foto: Rasmus Hjortshoj (COAST Studio)

Foto: Rasmus Hjortshoj (COAST Studio)

Homogene Betonmischungen in Stufen gradierter Dichte zur Materialprüfung [2]

Foto: Hersteller

Beton

Die Arbeit mit dem Konstruktionswerkstoff Beton bildet aufgrund des dominierenden Anteils dieses Baustoffs im Bauwesen und des hieraus resultierenden Material- und Energieeinsparpotentials den Schwerpunkt bei diesem Forschungsvorhaben. Die Relevanz der notwendigen Material- und CO2-Ersparnis im Betonbau wurde durch direkte Rückmeldung mehrerer führender Unternehmen der Branche, die als Kooperationspartner am Forschungsprojekt beteiligt sind, bestätigt.

Vier-Punkt-Biegezugversuch einer funktional gradierten Elementdecke

Foto: Hersteller

Im ersten Schritt wurden die materialtechnologischen Grundlagen für Betone mit variierender Porosität und demzufolge variierender Rohdichte, Wärmeleitfähigkeit und Steifigkeit gelegt. Es konnten Mischungen entwickelt werden, die ein Eigenschaftsspektrum von hochfest bis ultraleicht (Rohdichte <400 kg/m3) abbilden. Durch die Verwendung hochporöser mineralischer Zuschläge konnte eine Betonmischung entworfen werden, deren Wärmeleitfähigkeit noch unter der von EPS (z.B. Styropor) liegt. Dieser außergewöhnliche Leichtbeton ermöglicht es, durch das Konzept der Materialgradierung rein mineralische Betonaußenwände mit geringerer Dicke als bei vergleichbar leistungsfähigen Wärmedämmverbundsystemen zu erzielen, und dies bei besserer Rezyklierbarkeit und deutlicher Ressourcen- und Massenersparnis. Im zweiten großen Anwendungsbereich, den Geschossdecken, konnte außerdem gezeigt werden, dass durch eine beanspruchungsgemäße Variation der Betondichte im Bauteilquerschnitt bei gleicher Tragfähigkeit über 50 % an Masse eingespart werden kann. Mit der Massenersparnis gehen somit eine Zementersparnis und eine CO2-Reduktion der gleichen Größenordnung einher. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Herstellungstechnik dar. Im Rahmen des Projekts werden Verfahren zur Herstellung verschiedener Bauteilgeometrien sowie für ein-, zwei- und dreiachsige Eigenschaftsverläufe konzipiert und in ersten Versuchen erprobt. Damit können die Variation der Porosität, des Fasergehaltes sowie der Anteil anderer Beton-Zusätze wie Pigmente, Beschleuniger und PCMs lokal kontrolliert werden.

Weitere Materialien

Textilien mit fließenden Beschichtungsverläufen ermöglichen sowohl eine Gradierung der Permeationseigenschaften als auch der Materialsteifigkeit. So ließen sich beispielsweise Feuchtetransportprozesse innerhalb einer kontinuierlichen Gebäudehülle lokal unterschiedlich definieren, wie es bei Funktionsbekleidung bereits Stand der Technik ist. Durch fließende Steifigkeitsverläufe kann die bisher vorherrschende Trennung zwischen steifen und flexiblen Bauteilen aufgehoben werden, was zu völlig neuen architektonischen Lösungen führen kann.

Glasfasergewebe mit Silikonverlauf zur Gradierung der Permeabilität

Photo: Manufacturer

Mittels eines Gradierungsverfahrens konnten offenzellige Schaumstoffkörper mit fließenden Porositätsverläufen hergestellt werden. Durch Infiltration mit einer zweiten Phase lassen sich diese Schaumstoffe zu Bauteilen mit anforderungsgemäßer Steifigkeitsverteilung weiterverarbeiten.

Mit Betonleim graduell infiltrierter retikulierter Polyurethan-Schaum zur Gradierung der Steifigkeit

Foto: VMZINC und Hoffenscher Architekten

Funktional gradierte Bauteile weisen eine kontinuierliche Eigenschaftsänderung in ihrem Querschnitt auf. Die variierende Eigenschaft kann die Porosität/Dichte, der Fasergehalt oder das Materialmischungsverhältnis (Legierung/Blend) sein. Durch die Gradierung wird eine höhere Materialeffizienz erreicht, indem die Materialeffizienz den lokalen Anforderungen angepasst wird. Der fließende (gradierte) Phasenübergang beseitigt Schwachstellen wie beispielsweise unterschiedliche thermische Ausdehnungen an den Grenzflächen von Funktionsschichten und ermöglicht so verschiedene funktionale Zonen in einem Bauteil aus einem einzigen Material. Poröse Bereiche verbessern die Wärmedämmung, ein dichtes Gefüge bietet Wasserdichtigkeit und Festigkeit, lokale Faserverstärkungen finden sich in Bereichen erhöhter Beanspruchung. 

Forschungsgegenstand

Im Rahmen dieses Forschungsprojektes werden für verschiedene Baustoffklassen (Beton, Textilien, Holz, Metalle, Polymere) mögliche Herstellungsverfahren und Anwendungsfelder (Tragstruktur, Gebäudehülle, Verbindungstechnik) für funktional gradierte Bauteile untersucht und bewertet. Nach der Bewertung der potentiellen Herstellungsverfahren und deren Anwendbarkeit im Bauwesen folgen erste Versuche zur Fertigung von Prototypen und Musterbauteilen. Diese werden auf die jeweils relevanten Materialkenngrößen geprüft. Hierbei werden sowohl statische als auch bauphysikalische Prüfungen durchgeführt. Das Ziel des Vorhabens ist es, die neuen gestalterischen Möglichkeiten der Gradientenwerkstoffe auch von architektonischer Seite zu bewerten und Vorschläge für deren Einsatzbereiche zu erarbeiten.

Dichtegradierte Porenbetonprobe

Foto: Hersteller

Ein weiterer Aspekt der Gradiententechnologie ist das Ziel, verschiedene Materialien in einen fließenden, nahtlosen Übergang zu bringen. Dies ist vor allem ein neuer Ansatz der Verbindungstechnik, wobei unterschiedliche thermische Ausdehnungen durch den kontinuierlichen Übergang nicht mehr so stark lokal ausgeprägt sind oder punktuelle Lasteinleitungen vermieden werden können. Im Rahmen des Projekts werden erste Untersuchungen bezüglich baurelevanter Materialklassen, Anwendungspotenziale und möglicher Herstellungsverfahren durchgeführt.

Vision: fließende Materialübergänge (Holz-Aluminium), Fotomontage

Photo: VMZINC and Hoffenscher Architekten

Fazit                                                                                                                                                

Das Konzept der funktionalen Materialgradierung birgt großes, bisher unerschlossenes Potenzial der Materialersparnis und somit der Ressourcenschonung. Überdies können die verbesserten bauphysikalischen und tragstrukturellen Eigenschaften einen zusätzlichen Beitrag zur Material- und Energieeinsparung leisten [3]. Im Bereich der Verbindungstechnik können durch fließende Materialübergänge bisher existierende Schwachstellen vermieden werden. Auf der anderen Seite ergeben sich auch neue gestalterische Möglichkeiten, da die Bauteilformen nicht länger der Logik homogener Materialien und deren homogenen Eigenschaften untergeordnet werden. Wurde bisher vor allem das Optimierungskonzept der "materialgerechten Formgebung" verfolgt, so ebnet dieses Forschungsvorhaben den Weg für das neue Konzept der "formgerechten Materialgebung" [4]. Dies kann der deutschen Baukultur einen wichtigen Impuls geben, den großen ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen und damit weiter an internationalem Ansehen zu gewinnen. Dieses Forschungsvorhaben wird von der Initiative "Zukunft Bau" des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBR) gefördert.   Alle Abbildungen: ILEK Anmerkungen: [1] Kieback, B.; Neubrand, A.; Riedel, H.: Processing techniques for functionally graded materials, Materials Science & Engineering A, 362, (2003), 81-105 [2] Sippel, T.S.: Bestimmung der Eigenschaftsverläufe von Betonmischungen variierender Rohdichte für den Einsatz in funktional gradierten Bauteilen, Diplomarbeit ILEK, Universität Stuttgart, September 2009 [3] Sobek, W.: Entwerfen im Leichtbau, Themenheft Forschung / Universität Stuttgart, 3 (2007), 70-82 [4] Heinz, P.F.: Gradientenwerkstoffe und Architektur, Diplomarbeit ILEK, Universität Stuttgart, April 2007
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