29.01.2014 Bettina Sigmund

Interiors

Dass Trends – und besonders übergeordnete Megatrends – keine Laune von Gestaltern sind, sondern Bestandteil von interdisziplinären, weltweiten Strömungen, zeigten die Expertenvorträge des Architektenforums von DETAIL research, das am Freitag, den 17. Januar 2014, eingebettet in das Forum LivingInteriors am Messegelände in Köln stattfand. 

Allen drei Vorträgen gemein war die Erkenntnis, das sich zukunftsorientierte Trends maßstabsübergreifend in allen Planungs- und Entwurfsebenen zeigen, von der Stadtentwicklung und dem architektonischen Entwurf über die verwendeten Materialien bis zur letztendlichen Inszenierung des Raums. Während Trends in anderen Branchen schnelllebig sind, setzen sich diese in der Baubranche aufgrund der komplexen und linearen Planungsprozesse häufig erst zeitverzögert durch. Es lohnt der Blick über den Tellerrand – besonders in die Raumfahrt- und Automobilindustrie – und der Versuch, neue Technologien, Prozesse und Materialien auch im Bereich der Architektur neu zu verorten.
Trendforschung: Trendstudien in der Architektur Dr.-Ing. Alexander Rieck (Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation / LAVA Laboratory for Visionary Architecture, Stuttgart) sieht als Triebkraft für Veränderung in der Baubranche die Entwicklungen in den Bereichen Energiewende, industrielle Produktionsprozesse und Vernetzung von Funktionen in der Stadt. Die Energiewende wird Architekten zwingen, sich mit neuen Materialien auseinanderzusetzen. "Architekten nehmen das Thema Bautechnologie nicht richtig auf. Wir lassen uns treiben. Wir müssen die Dinge positiv angehen und die Architektur verändern, wenn wir wirklich zukunftsfähige Gebäude schaffen wollen." Unter Industrie 4.0 versteht Rieck den nächsten Sprung der industriellen Fertigung. "Die letzten 100 Jahre entstanden einheitliche Massenprodukte in linearen Produktionsprozessen. Im Industrie 4.0-Ansatz wird es keine Serien mehr geben. Automobilbauer gehen heute schon davon aus, dass jedes Auto in Zukunft individuell gefertigt wird. Und auch jedes andere Produkt. Und zwar mit der gleichen Geschwindigkeit und den gleichen Produktionsvorteilen wie im linearen Prozess." Die Begründung der Architekten, sie seien nicht in den industriellen Planungsprozess eingestiegen, weil jedes Haus ein Einzelstück sei, ist damit entkräftet. "Die Industrie 4.0-Prozesse werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu neuen Fertigungsprozessen im Bauwesen führen: industrialisierte, vorgefertigte, automatisierte Prozesse, die uns ermöglichen in sehr hohen Qualitäten, sehr schnell zu bauen." Einen weiteren prägenden Ansatz umschreibt Alexander Rieck mit dem Begriff Morgenstadt, hinter dem das gleichnamige Forschungsvorhaben des Fraunhofer Instituts steht. "Die großen Entwicklungen werden in Städten stattfinden. Vernetzt und nicht mehr voneinander isoliert. Wenn sich das Automobil verändert – es wird elektrisch und autonom fahren – werden sich auch Gebäude mittelfristig ändern. Die Stadt wird in den nächsten Jahren völlig neue Anforderungen stellen. Auf diese müssen wir mit der Architektur reagieren und entsprechend neue Module und Elemente entwickeln." Zusammenfassend wird der Prozess des Bauens in der Zukunft durch vier Hauptaspekte verändert werden: Materialen, Fertigungssysteme, Planung und Stadt. Der enorme Einfluss des dreidimensionalen, parametrisch vernetzten Planens steht bei diesen Prozessen fest, allerdings müssen die Reglementierungen und Prozessketten am Bau angepasst und verändert werden, bevor Informationen und Daten nahtlos von der Planung zur Fertigung fließen können.

Dr.-Ing. Alexander Rieck / Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation/ LAVA Laboratory for Visionary Architecture, Stuttgart

Materialforschung: Intelligente Materialien und Oberflächen Prof. Christiane Sauer (Weißensee Universität Berlin / formade - Studio für Material und Architektur, Berlin) zeigte innovative Einsatzmöglichkeiten von Material im Bereich Produktentwicklung und Architektur. Dabei bedeutet Materialforschung für sie nicht zwangsläufig sich mit Hightech-Materialien auseinanderzusetzen, auch Lowtech-Materialien und Stoffe aus anderen Branchen, in einem neuen Kontext, können ungeahnte Eigenschaften, Oberflächen und Gestaltungsaspekte zur Architektur beitragen. "Solid Smoke, ein nanoskaliger Schaum, in den 1950er-Jahren von der NASA entwickelt, wurde in die Bauindustrie überführt und wird jetzt, mit einem halben Jahrhundert Verzögerung, als Hightech-Dämmung verwendet. Diese Zeitverschiebungen zwischen den Industrien sind interessant. Ein Grund ist, dass wir unterschiedliche Sprachen sprechen, dass Architekten und Designer zu sehr in ihrer "Gestaltungsbox" sitzen. Es lohnt sich jedoch durchaus aus der Box heraus in andere Bereiche zu blicken." Christiane Sauer sucht sich Anregungen auf Textilien- oder Kunststoffmessen und entdeckt Materialien und Halbzeuge, die sie dann in einen anderen Kontext verortet. Anhand von innovativen Projekten mit den Materialien Graupappe und Filz zeigt sie, dass auch mit ganz einfachen Materialien ungewöhnliche Ergebnisse erzielt werden können. "Durch eine besondere Weise der Verarbeitung, durch einen neuen Blickwinkel, durch neue Technologien oder die Art der Anwendung kann man Standardmaterial eine neue Funktion geben." Unter dem Begriff "Ambient Intelligence" stellt sie Funktionstextilien vor, die nicht mehr als trennende Hülle zwischen dem Innen und Außen stehen, sondern beide Bereiche miteinander verbinden. "Dieser Paradigmenwechsel kommt nun auch in der Architektur an. Ein Wechsel von einer harten, abgrenzenden Haltung hin zu einem Miteinander – wir müssen mit der Energie, mit der Sonne, mit dem Wind denken und diese Aspekte optimal ausnutzen. Wenn man textil denkt, kann man darüber hinaus auch über eine Flexibilität der Funktionen und eine räumliche Neuzuordnung nachdenken – was für uns Gestalter natürlich immer wichtig ist."

Prof. Christiane Sauer / Weißensee Universität Berlin / formade - Studio für Material und Architektur, Berlin

Raumforschung: Mensch und Raum "Als Design- und Raumforscher wird man immer wieder gefragt: Brauchen wir diese Forschung? Ja, ich denke sehr wohl. Die Forschungsergebnisse leisten einen relevanten Beitrag." Mit diesen Worten führt Markus Reisinger (Forschung Innenarchitektur, Hochschule Luzern – Technik und Architektur) in seinen Vortrag ein. Auch wenn sich die Innenarchitekturforschung auf die kleinen Maßstäbe und eine angewandte Forschung bezieht, so ist ihre unmittelbare Relevanz für den Menschen erheblich, verbringen wir doch 90 Prozent unserer Zeit in Innenräumen. "Die Raumforschung positioniert sich am Schnittpunkt von Architektur, Design und Psychologie. Sie ist durch die Interaktion von Individuen und ihrer Umwelt charakterisiert. Der architektonische Raum entspricht einer sehr objektiven Auffassung von Raum, hinzu kommt das Individuum mit seiner subjektiven Wahrnehmung und seiner Bewegung. Die Ansprüche an unsere Räume sind gestiegen. Wir finden uns nicht mehr ab mit Räumen, die uns nur funktional zufrieden stellen. Räume sollen zusätzlich komfortabel, motivierend sein und unser Wohlbefinden steigern. Es ist ein breiter Fächer von Ansprüchen, die wir an unsere unmittelbare räumliche Umgebung stellen. Gleich geblieben ist der Mensch als Maß. Zu der klassischen Betrachtungsweise der Ergonomie, kommt jedoch die Betrachtung der kognitiven Ergonomie hinzu, in welcher Art und Weise Räume uns dienen können, unsere Aufgaben zu erfüllen und gleichzeitig unser Empfinden positiv zu beeinflussen. Die Funktionen und die emotional sinnlichen Aspekte eines Raums werden zu einer Einheit." Seine Aufgabe als Planer und Forscher sieht Reisinger darin "Forschungsergebnisse so aufzubereiten, dass sie für Gestalter und Designer zugänglich sind und direkt in Projekten verwendet werden können". Als Beispiele zieht er wissenschaftliche Forschungsprojekte aus der Psychologie und Neuroästhetik heran. Sein Fazit lautet: Das Bauen und Gestalten von Räumen der Zukunft wird sich wandeln, "vom Mensch als Maß aller Dinge zum Individuum mit all seinen Eigenheiten als Maß aller Dinge" und schließt sich damit den vorangegangenen Positionen von Christiane Sauer und Alexander Rieck an. Die Moderation des Architektenforums LivingInteriors supported by DETAIL research übernahm Roland Pawlitschko, freier Autor und Architekturjournalist aus München. (Bettina Sigmund)

Markus Reisinger / Forschung Innenarchitektur, Hochschule Luzern – Technik und Architektur

Über LivingInteriors Die Plattform LivingInteriors wird in zweijährigem Rhythmus parallel zur internationalen Möbelmesse imm cologne veranstaltet. Das Event präsentiert ganzheitliche Wohn- und Einrichtungskonzepte aus den Bereichen Bad, Boden, Wand und Licht in Verbindung mit Heimtextilien. Die Ausstellungsflächen der LivingInteriors wurden während der gesamten Messedauer von 13.-19. Januar 2014 mit einem Eventprogramm im Forum abgerundet. Im nächsten Jahr findet das Event LivingKitchen statt. www.livinginteriors-cologne.de
Geht es um das Bauen der Zukunft, muss der Architekt aus seiner "Box" kommen – denn Bauen funktioniert zukünftig noch stärker in branchen- und disziplinenübergreifenden Kooperationen. Architekten dürfen sich trauen neue Wege zu denken, war die Quintessenz des Architektenforums LivingInteriors supported by DETAIL research in Köln.
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