18.07.2013 Wojciech Czapnik

Metropolregion Katowice – Südpolen im Aufbruch

Junge Architekten und Innenarchitekten sowie aufgeschlossene Bauherren haben in den letzten Jahren das Bild der Städte im Süden Polens nachhaltig verändert.

Oberschlesien ist die am stärksten industrialisierte Region Polens. Einst von Stahlhütten und Bergwerken dominiert, stehen heute vor allem die Automobil- und Maschinenindustrie im Mittelpunkt. In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich allerdings auch der Hochschulbereich weiter, allen voran die Schlesische und Wirtschaftsuniversität, die Technische Hochschule sowie die Musik- und Kunstakademien. Das Erbe der Schwerindustrie ist jedoch noch immer spürbar und prägt bis heute das Image, auf das sich viele junge schlesische Designer, Künstler und Architekten gern beziehen.

Bahnhofshalle Katowice, Foto: Milosz Jaksik

Ein weiteres charakteristisches Merkmal dieser Region ist das Vorherrschen einer modernistischen Ästhetik. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden vor allem in Katowice (Kattowitz) viele Gebäude in diesem Stil erbaut. Ursache hierfür war nicht eine Art architektonisches »Wettrüsten« zwischen dem deutschen und dem polnischen Teil Oberschlesiens. Doch auch in der Nachkriegszeit entstanden hier viele spätmoderne Ikonen wie die »Spodek«-Mehrzweckarena (1974, Architekten: Gintowt, Krasinski, Zalewski) oder der Hauptbahnhof (1972, Architekten: Klyszewski, Mokrzycki, Wierzbicki, Zalewski). Die Bahnhofshalle, die als bestes Beispiel des Brutalismus in Polen galt, wurde zwar Ende 2010 abgerissen, die charakteristischen pilzförmigen Stahlbetonstützen jedoch sorgfältig rekonstruiert. Für den Innenausbau des Bahnhofskomplexes, der im Untergeschoss auch einen zentralen Busbahnhof einschließt, zeichnet das Büro medusa group aus Bytom (Beuthen) verantwortlich.

Immer häufiger werden spätmoderne Bauten inzwischen nicht mehr abgerissen, sondern erhalten vielmehr eine Chance auf ein neues Leben. In Tychy (Tichau) beispielsweise wurde 2012 ein Gymnasium aus den 1960er-Jahren saniert. Neue weiß-schwarze Fassaden, farbige Epoxidharzböden, Wände und Treppenhäuser nach dem Entwurf von RS+ architekci zeigen eine erhaltenswerte, mehrfach preisgekrönte Architektur und eine hohe räumliche Qualität. Viele der in den letzten Jahren in Oberschlesien errichteten Neubauten beziehen sich durch ihre »rohe« Ästhetik und den Einsatz einfacher Materialien auf die lokale Baugeschichte. So verwenden Architekten seit jeher häufig Klinkermauerwerk, vor allem bei den für Gruben- und Stahlarbeiter geplanten Mehrfamilienhäusern, den sogenannten Familok. Diese Tradition, aber auch das markante Profil der Architekturfakultät in Gliwice (Gleiwitz), an der eine eher klare, nüchterne Architektur gelehrt wird, heben neue oberschlesische Bauten gegen den Rest der polnischen Architekturszene ab.

Gymnasium in Tychy, Foto: Tomasz Zakrzewski

Der Einsatz von Ziegelmauerwerk führte schon 2007 bei der Erweiterung des historischen Gebäudes der Musikakademie in Katowice zu überaus stimmigen Innenräumen. Der vom Architektenbüro Konior Studio entworfene Neubau besteht aus einem zur Straße orientierten Konzertsaal für 500 Zuschauer sowie einer Bibliothek und Büros, die sich in einem schmalen, dem historischen Akademiegebäude gegenüberliegenden Trakt befinden. Während sich der Erweiterungsbau in Bezug auf seine Abmessungen und die Klinkerbekleidung von außen auf das alte Gebäude bezieht, dominieren in seinem Inneren roher Beton, Glas und die großflächige Holzverkleidung des Konzertsaals. Zwischen Altund Neubau entstand ein glasgedecktes Atrium mit Restaurant, eine lichtdurchflutete Fläche, die sich inzwischen als beliebter öffentlicher Raum etabliert hat.

Eines der größten und wichtigsten Projekte der letzten Jahre in Katowice ist die in einem innerstädtischen Stadtentwicklungsgebiet vom Büro HS99 realisierte und durch zwei Universitäten (Schlesische und Wirtschaftsuniversität) finanzierte Universitätsbibliothek. Das Architektenteam aus Kolobrzeg (Kolberg) gewann den Wettbewerb bereits 2002, fertiggestellt wurde das Projekt mit geringfügigen Änderungen allerdings erst im Jahr 2012. Glücklicherweise blieb die reduzierte Architektursprache trotz dieses Verzugs unverändert, sodass sich das einfache Volumen und die lineare Anordnung der Gebäude heute gut in den spätmodernen Kontext des neuen Universitätscampus einfügen.

Universitätsbibliothek Katowice, Foto: Jakub Certowicz

Der charakteristische Rhythmus der Fassaden entsteht durch eine rote Sandsteinverkleidung und Schlitzfenster, die abwechselnd in sich nach oben verjüngenden Streifen angeordnet wurden. Dieses Motiv wiederholt sich mehrfach im Innenraum: im Basaltfußboden, in den Akustikpaneelen der Konferenzräume oder – im Negativ – bei den zu den Innenhöfen orientierten Glasfassaden. Der dichte Rhythmus der Dachholzbalken über dem zentralen Atrium sorgt dabei für streng lineare Schattenmuster. Das einzige nicht orthogonale Element ist die in den Luftraum auskragende Haupttreppe. Die meisten Betonflächen blieben unbehandelt, einschließlich der vorgefertigten Außenwandelemente. Neben Forschungsbereichen, Studienräumen und Büros schafft das neue Gebäude zugleich neue öffentliche Räume. Im Erdgeschoss dehnen sich die frei zugängliche Bibliothek und die großzügige Eingangshalle über die gesamte Gebäudefläche aus. In der Halle befindet sich auch ein öffentliches Café, das sich zu einem neuen Platz orientiert, der zwischen Neubau und einem ebenfalls neugestalteten Bachbett liegt.

Universitätsbibliothek Katowice, Foto: Jakub Certowicz

Nur einen Steinwurf entfernt ist seit zwei Jahren der neue Sitz des Schlesischen Museums im Bau. Das Gebäude ist auf dem Gelände der ehemaligen Ferdinandgrube in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums situiert. Auf Grundlage eines gewonnenen Wettbewerbs verbergen die Architekten vom Grazer Architekturbüro Riegler Riewe den größten Teil der Baumasse unterirdisch, sodass die historischen Zechengebäude, die sich im hinteren Grundstücksteil befinden, sichtbar bleiben. Ausstellungsflächen und ein Kongresszentrum werden von Glasboxen beleuchtet, die mit einem an Eiskristalle erinnernden Strukturglas abgedeckt sind. Im Sinne der gestalterischen Durchgängigkeit zeigt sich auch ein neues Bürogebäude auf ähnliche Weise bekleidet. Die Wegeführung innerhalb des Museums erfolgt mithilfe von Fahrtreppen und langen Rampen, die die Ausstellungsebenen mit dem Eingangsniveau verbinden. Dabei weisen die auf vielfältige Weise miteinander verknüpften Innenräume nur wenige Oberflächenmaterialien auf: Sichtbetonwände, Industrieparkett, Klar- und Milchglas. Ende 2013 soll das Museum eröffnet werden – unter anderem mit einer Theater- und Film-Dauerausstellung, die die Möglichkeiten der beträchtlichen Innenraumhöhen nutzt. Unmittelbar neben dem Schlesischen Museum entstehen bis 2014 zwei andere, zukünftig das Stadtbild prägende Objekte: der neue Sitz des Nationalen Rundfunkorchesters (NOSPR) von Konior Studio und das Kongresszentrum des Warschauer Büros JEMS Architekci. Zusammen mit der renovierten»Spodek«-Mehrzweckarena bilden diese vier Gebäude dann das neue Kulturviertel von Katowice.

Schlesisches Museum in Katowice, Foto: Riegler Riewe Architekten

Eines der interessantesten oberschlesischen Büros ist medusa group, das vor allem durch seine Kombination von zeitgemäßem Design und der Faszination der lokalen Tradition bekannt ist. Schlüsselprojekt in diesem Zusammenhang ist die bereits 2003 realisierte Umwandlung eines alten Zechengebäudes in Bytom in ein von einem der Büropartner bewohntes Loft. Das so gennante Bolko Loft, ein dunkelgrauer, eingeschossiger Flachbau auf Betonstelzen, gilt als erste Loft Polens. Dessen Innenraum erscheint in einer rauen Industrieästhetik – mit dicken Kunststofffolien-Vorhängen und großen Profilglasfenstern. Vor einigen Jahren bezog medusa group ein kleines Fabrikgebäude in der Nähe des Bytomer Marktplatzes. Für die Einrichtung des neuen Bürostandorts wurde die bestehende Substanz nahezu unverändert beibehalten und lediglich weiß gestrichen. Neue Elemente wie Trennwände oder Toiletten kontrastieren dagegen in Schwarz.

Bolko Loft in Bytom, Foto: Daniel Chrobak & Jan Lutyk

Büro der medusa group in Bytom, Foto: Daniel Rumiancew

Neben diesem Projekt ist das Büro auch für eine ganze Reihe von charakteristisch länglichen Einfamilienhäusern bekannt, die in der Gegend von Gliwice innerhalb der letzten zehn Jahre errichtet wurden – unter anderem das 2009 fertiggestellte und von den Architekten als »Leiste« bezeichnete Haus in Ornontowice (Ornontowitz), das eine Länge von 50 Metern erreicht.

Nicht weniger ungewöhnlich sind auch die Innenräume eines 2010 realisierten Jazzclubs im Teatr Rozrywki von Stozek & Partnerzy in Chorzów (Königshütte). Wand- und Deckenbekleidung bestehen dort aus U-förmigen Aluminium-Trockenbauprofilen, die sich üblicherweise im Inneren und nicht vor der Wand befinden. Die schimmernde, unebene Oberfläche wirkt zunächst wie ein im Wind wehender Eisenvorhang – ein Bild, dessen Theatralik durch die Beleuchtung mit farbigen LEDs verstärkt wird. Hinzu kommen scherenschnitthaft gestaltete Ledersitze und mit Klavierlack versehene Tische, die ebenfalls von den Architekten entworfen wurden.

Diese Rauminstallation ist keineswegs nur als spektakuläre Eventarchitektur gedacht, sondern verfolgt auch ganz pragmatische Gründe. So bleiben die bestehenden Backsteinwände und der Steinboden völlig unversehrt, wenn die Trockenbauprofile nach Ablauf des Mietvertrags rückstandsfrei entfernt worden sind.

Jazzclub in Chorzów, Foto: Wojciech Eksner

Junge oberschlesische Architekturbüros beginnen ihre berufliche Laufbahn oft mit Innenarchitekturprojekten, Umbauten und kleinen Objekten – ganz im Gegenteil zur Warschauer Architekturszene, wo selbst Berufsanfänger dank der größeren Kaufkraft der Menschen von Anfang an auch Boutiquen, Läden und Clubs entwerfen. Zu den aufgeschlossenen Bauherren in Südpolen gehören immer häufiger auch kleine und mittlere Unternehmen, die ihre Büros und Ausstellungsräume von Nachwuchsarchitekten gestalten lassen.

Zu den bemerkenswerten Büros in diesem Zusammenhang zählen JRK72. Die Architekten sind beispielsweise verantwortlich für den 2009 fertiggestellten Innenausbau der Powen-Wafapomp Vorstandsbüros in Zabrze (Hindenburg O.S.). Betonboden und exponierte Leitungen an rohen Betonflächen im Dachgeschoss eines Bürohauses der 1950er-Jahre kontrastieren dabei mit profillosen Glasflächen und eigens entworfenen Möbeln aus klarem Acrylglas. Für Farbakzente sorgen rote, als Trennvorhänge genutzte LKW-Planen. Ziel der Architekten war es, einfache und wirtschaftliche Innenräume zu schaffen, die nicht an stereotype Chefbüros erinnern sollten.

Powen-Wafapomp Vorstandsbüros in Zabrze, Foto: Krzysztof Zgola

Ebenso untypisch wie bestechend einfach sind die 2009 in Tychy in einem Kindergarten aus den 1960er-Jahren vom Büro RS+ architekci realisierten Sanitärräume. Anstatt banaler Abhangdecken bestimmen dort heute facettierte Decken mit großen bunten Kuben und überdimensionalen Buchstaben den Raumeindruck. Was nicht nur zeitgemäß wirkt, sondern auch bei den Kindern große Neugier weckt, wurde mit einfachsten Mitteln aus Gipskarton, Styroporplatten und Farbe erreicht.

Kindergarten in Tychy, Foto: Tomasz Zakrzewski

Völlig aus der Zeit gefallen erscheint hingegen der Neubau eines Franziskanerklosters in Tychy – einer Stadt, die auf eine nur 50-jährige Geschichte zurückblickt und vollständig während der kommunistischen Zeit erbaut wurde. Seit gut einem Jahrzehnt entsteht dort ein Komplex, der nicht zuletzt aufgrund der Umgebung aus Einfamilienhäusern und Plattenbausiedlungen heraussticht. Kennzeichnend ist aber vor allem die symbolische Formensprache und die eigenwillige Verknüpfung von handbearbeiteten Natursteinmassivwänden sowie skulpturalen, teilweise durchgefärbten Sichtbetonelementen, die an die Architektursprache Carlo Scarpas erinnern.

Hinzu kommt ein Bauprozess, der sich völlig frei macht von den auch in Polen üblichen Tendenzen zu schnelleren, effektiveren und zeitlich optimierten Abläufen. Stattdessen verfolgen die Mönche hier eine Bauweise, die weniger auf das 21. Jahrhundert als auf das Handwerk der Dombauhütten des Mittelalters Bezug nimmt. Der Klosterkomplex besteht aus mehreren Kirchen und Kapellen, Innenhöfen, Wohnbereichen, einem Kolumbarium und nicht zuletzt aus fünf, rund 30 Meter hohen Türmen, die symbolhaft auf die Wundmale Jesu verweisen. Eine planerische Dokumentation des Klosters ist kaum vorhanden. Dafür ist der in der Nähe lebende Architekt Stanislaw Niemczyk, der bereits mehrere Kirchen in Südpolen realisierte, umso häufiger vor Ort auf der Baustelle, um den Arbeitern, darunter auch viele Mönche, Anweisungen zu geben.

Franziskanerkloster in Tychy, Foto: Roland Pawlitschko

Die in den vergangenen Jahren in der Metropolregion Katowice realisierten Projekte zeugen von einer Aufbruchstimmung, die das Gesicht ganzer Städte langfristig vollkommen verändern wird. Die Kreativität der jüngeren Planer und die Aufgeschlossenheit vieler Bauherren dürften dafür sorgen, dass dort auch in Zukunft noch viele bemerkenswerte Projekte zu erwarten sind.

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