17.04.2024 Heide Wessely

Experimentierfreude gegen den Klimanotstand

Sarah Wigglesworth, © Jim Stephenson

Die britische Architektin Sarah Wigglesworth ist mit ihrem Strohballenhaus in London bekannt geworden. Wie man ganze Städte nachhaltig gestalten könnte, beschreibt sie in diesem Gespräch mit Heide Wessely. Das Interview ist in der Neuerscheinung Architektur und Klimawandel von Edition Detail erschienen.

Frau Wigglesworth, Sie haben 2001 das Strohballenhaus gebaut, um zu testen, ob sich nachhaltige, aber ungewöhn­liche Baumaterialien auch für den städtischen Kontext eignen. Das Gebäude wurde mehrfach ausgezeichnet, hat aber nicht viele Nachahmer gefunden. Warum nicht?
Das Projekt war eine radikale Abkehr von dem, was in der Architektur damals üblich war – für uns war das der Anreiz. Wir wollten eine Debatte über ästhetische Fragen und grüne Architektur anstoßen, denn die war damals in der Regel auf kleine Häuser in ländlichen Gegenden beschränkt. Wir wollten beweisen, dass auch Städte nachhaltig gebaut sein können. Bei der Auswahl der Baustoffe haben wir auf CO2-Bilanz, ­Toxizität und Umweltverschmutzung geachtet – Themen, die damals kaum präsent waren. Unsere Produktauswahl war sehr hybrid, sie folgte anderen Kriterien als dem üblichen Kanon von Hightech und Lowtech. Warum wir diese seltsamen Materialien und Bauteile verwendet und kombiniert haben, verstand die Fachwelt nicht. Hochwertige Fenster und Strohballen zum Beispiel – nach konventionellem Schema sind das eigentlich Gegensätze. Die breite Öffentlichkeit dagegen reagierte sehr positiv. Ein weiterer Grund war wohl auch, dass das Strohballenhaus kein teures Gebäude ist, es ist nicht repräsentativ. Sein Wertesystem unterscheidet sich von robusten Häusern, die teuer aussehen – und das wollen die meisten Menschen. Außerdem war da die Angst, ungewöhnlich zu sein und nicht von vornherein zu wissen, wie man bei solch einem Projekt die Bauvorschriften einhalten kann.

Strohballenhaus in London, © Paul Smoothy

Es kostet Bauherren also zu viel Mut, Bahnschwellen als Fensterstürze einzusetzen, mit Stroh zu dämmen und Wände aus Sand­säcken zu bauen?
Ganz genau, denn wo liegen diese Materialien im Wertesystem? Dafür gab es keine Erfahrungswerte. Zum Glück haben sich die Dinge ein bisschen verändert, weil uns klar geworden ist, dass wir als Gesellschaft sehr verschwenderisch sind. Zwar sind Strohballen noch immer kein Mainstream, aber Themen wie Recycling, Kreislaufwirtschaft und Umnutzung statt Neubau sind ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Auch nachwachsende Baustoffe, die CO2 binden statt es zu emittieren, gewinnen an Bedeutung: Hanf zum Beispiel ist ein tolles Material. Man kann Teppiche daraus machen, aber auch ganze Häuser damit bauen, denn in Verbindung mit Kalk ist es so tragfähig, dass man es sogar für Fundamente verwenden kann. In Frankreich gibt es rund 600 Häuser aus Hanf, hier sind es etwa 25 – viel zu wenig.

Warum haben es nachhaltige Bauweisen und nachwachsende Materialien so schwer? Schließlich hat der Global Status Report for Buildings and Construction der UN von 2020 aufgezeigt, dass der weltweite CO2-Ausstoß auf Re­kord­niveau liegt und 38 % auf den Bausektor zurückgehen.
Es irritiert mich, dass dieses Thema in der Bauindustrie nicht mehr Beachtung findet, denn es ist so allgegenwärtig. Ich denke, das Baugewerbe ist risikoscheu und monopolistisch. Zu viele Leute fühlen sich noch immer wohl mit dem, was sie tun.

Was müsste sich ändern?
Die Gesetzgebung. Es bräuchte Menschen in der Politik, mutige Menschen, die neue Verfahren fordern, Sammelsysteme, Versickerungsflächen, alternative Energiequellen, kreislauffähige Materialien. An die Graswurzelbewegung glaube ich nicht. Es gibt Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen sind die Menschen nicht innovativ genug, sie gehen das Problem nicht aus eigenem moralischen Antrieb an. Alle warten darauf, dass ein anderer den ersten Schritt macht, keiner will riskieren, in neue Verfahren oder neue Techniken zu investieren, die sich am Ende womöglich nicht auszahlen. Durch das Abwarten und Beobachten verschlimmert sich die Lage – es ist eine Schleife, aus der wir ausbrechen müssen. Viel Zeit haben wir nicht mehr.

Was können Architekten dafür tun?
Jeder muss etwas tun. Jedes Individuum! Wir müssen uns fragen: Ist es sinnvoll, wie wir leben, wie wir reisen, wie wir einkaufen, was wir essen? Diese Fragen stellen uns vor ein ethisches Dilemma. Das ist hart, aber wir kommen nicht darum herum, jeden Bereich unseres Lebens neu auszuloten. Als Architekten können wir auf die Meinung anderer einwirken: Bauherren, ­Hersteller, Behörden. Unser Büro ist klein, aber wir propagieren seit 25 Jahren Nachhaltigkeit in der Architektur und haben einiges erreicht. Wir haben Niedrigenergieschulen und -wohnungen gebaut und ertüchtigen viele Bestandsgebäude energetisch und nachhaltig, viele davon sind soziale Wohnungsbauten. Das ist keine sexy Bauaufgabe, aber sie ist enorm wichtig.

55 % des Abfalls stammt aus der Baubranche, nur 1 % wird wiederverwendet. Darüber hört man fast nichts. Wegwerf­becher zu verbieten wird dagegen laut gefordert. Ergibt das Sinn?
Angesichts des großen Problems des Klimawandels ist es für den Einzelnen schwierig herauszufinden: Was kann ich tun? Was könnte helfen? Das ist Teil des Dilemmas. Auf Plastikbecher zu verzichten, ist zwar eine Kleinigkeit, aber das kann man einfach umsetzen. Die Bauindustrie umstellen ist eine riesige Aufgabe, zu der ich als Einzelperson nichts beitragen kann. Doch selbst wenn der Wegwerfbecher nur dazu dient, zu verstehen, dass man eine Rolle im Gesamtbild spielt, ist das gut, es schärft das Bewusstsein.

Architektur und Klimawandel. 20 Interviews zur Zukunft des Bauens, © Edition Detail, München 2024

Wie können wir unsere Städte nachhaltiger gestalten? 
Ich würde als erstes die Autos verbannen, jeder soll mit dem Fahrrad fahren. Dann würde ich die Straßen mit Bäumen bepflanzen und Schwammstädte schaffen, um gegen Starkregen gewappnet zu sein. Die Häuser würden aus Holz bestehen, und Beton gäbe es nicht mehr. Ich würde, auch wenn wir verdichten müssen, keine Hochhäuser bauen, denn sie sind wegen der vertikalen Erschließung zu verschwenderisch. Außerdem tut es uns gut, uns zu bewegen, zu Fuß oder auf dem Rad oder beim Treppensteigen. So würden wir auch unseren Nachbarn begegnen und niemand würde sich ausgeschlossen fühlen. Inklusion und Diversität sind sehr wichtig, wir sollten jeden ins Boot holen.

Ihre Vision erinnert mich an die 15-Minuten-Stadt, in der mit dem Rad oder zu Fuß alle wichtigen Einrichtungen in 15 Minuten erreicht werden. In der Realität dauert der Weg zur Arbeit aber meist länger...
... der Weg der Männer zur Arbeit – nach ihnen sind die Städte geplant. Die Frau bleibt zu Hause im Vorort, und der Mann fährt in die Stadt, ins Büro oder die Fabrik. Das ist verrückt, und diese Städte zementieren solche Lebensweisen fest. Das müssen wir ändern, um nachhaltig leben zu können. In Wien gibt es eine tolle Sache: Dort wird für jedes Stadtplanungsvorhaben ein Gutachten erstellt, das prüft, wie sich das Vorhaben auf das Leben von Frauen auswirkt. Denn ihre Bewegungsmuster sind anders als die von Männern: Sie tragen die Hauptlast im Haushalt, gehen einkaufen, bringen die Kinder zur Kita, gehen arbeiten, kümmern sich um die Eltern. Was wir entwerfen, wirkt sich auf das Leben von Frauen aus, bislang sind sie ignoriert worden, aber ein Umdenken ist dringend nötig.

Das klingt nach einer klaren Benachteiligung von Frauen.
Frauen sind auch nicht gleichberechtigt. Aber wenn wir es schaffen, Frauen mit ihren Erfahrungen und der Art, wie sie leben, mehr Gewicht zu verleihen, brauchen wir auch keine Gutachten mehr, dann schaffen wir eine gleichberechtigtere und nachhaltigere Gesellschaft auch so.

Sarah Wigglesworth gründete 1994 ihr Büro in London. Ihr Team ist überwiegend weiblich. Frauen in der Architektur präsenter zu machen ist ein Ansatz der mit vielen Preisen ausgezeichneten Architektin – weitere sind die Partizipation von Nutzerinnen und Bauherren, interdisziplinäre Planung, vor allem für Städte, und nicht zuletzt nachhaltiges Bauen per se.

Blick ins Buch: Hier blättern


Architektur und Klimawandel. 20 Interviews zur Zukunft des Bauens.
Herausgeberin: Sandra Hofmeister
Sprachen: Deutsch, Englisch


Erscheinungsdatum: April, 2024
Verlag: Edition Detail, München 2024
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