26.11.2025 Jakob Schoof

Sinnlich und nachhaltig: Was Mauerwerksbau heute leisten muss

Die Casa Intermedia von Equipo de Arquitectura steht auf einem schmalen Handtuchgrundstück in Asunción, der Haupstadt von Paraguay. Wände und Dachschalung des Gebäudes bestehen aus luftgetrockneten Lehmziegeln. © Federico Cairoli

Mauerwerk ist eines der ältesten Baumaterialien überhaupt – und doch immer wieder für Innovationen gut. Ansgar und Benedikt Schulz haben 2025 die Neuausgabe des Atlas Mauerwerk von Edition Detail herausgegeben. Im Gespräch berichten die beiden Brüder über ihre Arbeit am Atlas, neue Entwicklungen in der Mauerwerksbranche und die neu entdeckte Sinnlichkeit im Ziegelbau. 

Der Atlas Mauerwerk ist im November in der Edition Detail erschienen. © Detail 

Die letzte Ausgabe des Atlas Mauerwerk ist 2001 erschienen. Welche Neuerungen haben sich seither in der Mauerwerksbranche ergeben?
 

Benedikt Schulz: Das Thema Nachhaltigkeit ist zentral geworden. Die Hersteller arbeiten daran, den CO2-Ausstoß bei der Produktion zu reduzieren. Das ist mit hohen Investitionssummen verbunden, zumal viele Ziegelhersteller erst vor wenigen Jahren ihre Produktion auf Gasbefeuerung umgestellt haben. Bei der Kreislauffähigkeit der Produkte gibt es ebenfalls Fortschritte. Um die Jahrtausendwende hat auf die Wiederverwendung von Ziegeln noch niemand geachtet. Aus gestalterischer Sicht hat der Mauerwerksbau an Sinnlichkeit gewonnen. Vor 24 Jahren hat man hat das Material eher pragmatisch verarbeitet. Das Gestaltungsrepertoire war weitgehend auf Vorsatzschalen beschränkt. Dabei stellte sich nur die Frage, wie Fenster- und Türstürze aussehen und wie die Einfassungen von Öffnungen gestaltet werden. Heute erleben wir eine Rückkehr der Ornamentik und eine zunehmende Vielfalt der Mauerwerksverbände. Und es gibt eine Renaissance der durchbrochenen Wand, also des Weglassens der Binderschichten im Mauerwerk. 
 
Ansgar Schulz: Ich beobachte einen starken Trend zum monolithischen Mauerwerk und zum einfachen Bauen. Eine Wand zu bauen, die alles leistet – Wärmeschutz, Tragfähigkeit, Schallschutz – und dann nur noch verputzt wird, war schon immer der Traum vieler Architektinnen und Architekten. Am anderen Ende des Spektrums stehen Bestrebungen, Mauerwerk ganz ohne Mörtel zu fügen, etwa mit Bauteilen aus Edelstahl. Solche Tendenzen gab es schon im frühen 19. Jahrhundert: Viele Mauerwerkskonstruktionen von Karl Friedrich Schinkel waren bereits mit Eisen bewehrt. Eines unserer Lieblingsprojekte im Atlas Mauerwerk ist das Umspannwerk in Imatra von Kivinen Rusanen Architects. Dabei ist die Vorsatzschale an einer Stahlkonstruktion aufgehängt und nicht mehr im herkömmlichen Sinn vermauert. Das ist sehr materialintensiv – und man könnte sagen, konstruktionsfremd, weil der Mörtel fehlt. Aber es sind tolle Bilder, die dabei entstehen. 

Wie sind Sie an die Auswahl der Projekte für den Atlas herangegangen?

Ansgar Schulz: In unserem Atelier in Zwenkau in Leipzig gibt es eine große Wand. Daran haben wir mehr als 150 Projekte in Form kleiner Steckbriefe aufgehängt: Veröffentlichungen aus den Fachmedien, aber auch Preisträger diverser Architekturpreise. Anschließend sind wir wie bei einem Preisgericht durchgegangen und haben die Projekte mit Post-its markiert.  Wenn wir mehrere Projekte derselben Nutzung oder von ähnlichem Charakter gefunden haben, haben wir uns für eines davon entschieden. Außerdem war uns wichtig, dass wir uns nicht allein auf Ziegel konzentrieren, sondern auch Betonsteine, Kalksandsteine und Lehmsteine im Atlas aufnehmen.  
 
Mauerwerk wir bis heute überwiegend mit handwerklichen Verfahren hergestellt. Gibt es Ansätze zur Rationalisierung im Mauerwerksbau, die Sie für vielversprechend halten?

Benedikt Schulz: Schon in den 2000er-Jahren haben Gramazio + Kohler an der ETH Zürich mit Mauerwerkswänden experimentiert, die von Robotern erstellt werden. Allerdings sind diese Verfahren nie über das Forschungsstadium hinausgewachsen. Am Ende werden sie nur Erfolg haben, wenn es gelingt, einen Kompromiss aus gestalterischem Anspruch und Wirtschaftlichkeit zu finden. Wir erleben derzeit Ähnliches in einem Forschungsprojekt zu tragenden Natursteinkonstruktionen. Derzeit arbeiten wir noch an Wänden und Stützen, aber perspektivisch wollen wir auch den Beton in Hybriddecken durch Naturstein ersetzen. Auch hier zeichnet sich ab, dass allen die Wirtschaftlichkeit über die Massentauglichkeit solcher Konstruktionen entscheidet. Niemand wird so etwas bauen, solange die Natursteindecke teurer ist als die Betonkonstruktion.

Worum geht es bei dem Forschungsprojekt konkret, und auf welche internationalen Vorbilder können Sie sich stützen?

Ansgar Schulz: Es gibt in Deutschland keine Norm mehr, die es erlaubt, tragende Elemente aus Naturstein zu bauen. Nicht mal eine Wand oder eine Stütze. Bei unserem Projekt geht es hauptsächlich darum, Naturstein trocken zu fügen. Beispielsweise indem man im Abstand von wenigen Metern Spannglieder einfügt. Andere Länder in Europa sind da schon weiter, etwa Frankreich, die Schweiz und Spanien. Wir haben im Atlas Mauerwerk zum Beispiel einen Wohnungsbau aus Genf aus tragendem Naturstein veröffentlicht. Das Büro Atelier Archiplein hat dort drei verschiedene Steinarten mit unterschiedlichen Druckfestigkeiten kombiniert. Der innere Kern ist vorgespannt und übernimmt die Aussteifung im Erdbebenfall. Ich finde das Projekt sehr ausgeklügelt – und obendrein handelt es sich um einen sozialen Wohnungsbau, der für Schweizer Verhältnisse extrem günstig war.

Im Norden Spaniens haben Sebastián Arquitectos diese verfallene Kapelle am Jakobsweg wiederaufgebaut. Dazu verwendeten sie Mauerwerk aus lokalem Sandstein, das mit einer CNC-Fräse plastisch zugeschnitten wurde und an einer Stahlkonstruktion rückverankert ist. © bergeraphoto

Wo findet man heute noch Innovationsgeist in der Mauerwerksbranche? 

Benedikt Schulz: Vor allem bei der Entwicklung von Baustoffen, wie etwa von Lehmsteinen, für die es mittlerweile die ersten bauaufsichtlichen Zulassungen gibt. Die Normung ist bisher allein deutsch und noch nicht europaweit harmonisiert. Man merkt daran, dass Deutschland in diesem Bereich ganz klar Innovationsträger ist. Lehmsteine haben Vorteile in Bezug auf den CO2-Ausstoß bei der Produktion, aber auch hinsichtlich des Innenraumklimas. Die traditionellen Ziegelhersteller müssen sich überlegen, wie sie die energieintensive Herstellung kompensieren und die Kreislauffähigkeit ihrer Produkte steigern. Da werden zwangsläufig weitere Innovationen entstehen. Nach unserer Beobachtung wird Lehmstein-Mauerwerk besonders oft mit Holzkonstruktionen kombiniert. Lehmsteine bringen die Masse in ein Gebäude, die der Holzbau allein nicht liefert. Ein Nachteil ist allerdings die Witterungsbeständigkeit von Lehmkonstruktionen. Andere Länder sind da schon weiter, indem man dem Lehm dort einen geringen Anteil Zement hinzufügt und ihn so haltbarer macht.   
 
Ansgar Schulz: Derzeit arbeiten wir am Entwurf eines Ankunftszentrums für Geflüchtete in Heidelberg. Dort überlegen wir, alle nicht tragenden Wände aus vorgefertigtem Lehmsteinmauerwerk herzustellen - also aus geschosshohen Wandabschnitten, die im Werk erstellt und dann fertig auf die Baustelle geliefert werden. Damit wären wir wieder bei der Wirtschaftlichkeit: Neue Baustoffe werden sich nur dann durchsetzen, wenn sie preislich konkurrenzfähig sind mit herkömmlichen Konstruktionen.

Der Erweiterungsbau des Kunstzentrums Z33 in Hasselt fügt sich harmonisch in das Grundstück am Altstadtrand ein. Francesca Torzo verkleidete das Bauwerk mit 37 mm dicken, rautenförmigen Ziegelplatten, die auf einer Vorsatzschale aus Hochlochziegeln vermörtelt sind. © Olmo Peeters

Sie haben im Mauerwerks-Atlas Gebäude aus ganz unterschiedlichen Weltregionen dokumentiert. Gibt es regional unterschiedliche Mauerwerks-Kulturen – und worin unterscheiden sich diese?

Benedikt Schulz: Viele europäische Länder, etwa Spanien oder Belgien, sind wesentlich experimentierfreudiger im Umgang mit Mauerwerk. Das ist in Deutschland aufgrund der rigiden Normung und des Effizienzstrebens sehr selten. Wir können aber noch weiter ins Ausland blicken, etwa nach Paraguay. Ich habe dort vor 35 Jahren studiert, und wir haben jetzt auch ein Wohngebäude aus dem südamerikanischen Staat im Atlas Mauerwerk veröffentlicht. In Paraguay liegen die Dinge ganz einfach: Man baut nur mit dem, was man hat. Das Land hat keine eigene Stahlproduktion. Man importiert nur gewalzte Bleche, die man anschließend zu Profilen formt. Was das Holz angeht – es gibt eine einzige Baumart, Lapacho, die in Paraguay wächst. Daraus wird alles hergestellt: Fensterrahmen, Möbel, Wandverkleidungen. Für die Ziegelherstellung wird überwiegend die eisenhaltige rote Erde des Landes genutzt. Das Material wird entweder luftgetrocknet oder gebrannt. In der Regel ist das Brennen gar nicht nötig, weil die Ziegel dort nicht extremem Dauerregen ausgesetzt sind. Diese Beschränkung der Baumaterialien – man hatte ja ursprünglich nichts anderes – trägt heute zur Identifikation mit dem Land und seiner Architektur bei. Außerdem gibt es in Paraguay eine starke Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Lehmbau. Aus Paraguay kenne ich es auch, dass man dem Lehm rund 8 % Zement beimischt, damit der Abbindeprozess schneller vonstatten geht. Daraus werden dann sowohl Stampflehmwände gebaut als auch Mauerziegel. Die lokalen Produktions- und Klimaverhältnisse haben dort zu einer ganz anderen Bauweise geführt als bei uns in Europa.  
 
Abgesehen vom Mauerwerk aus Lehmsteinen – gibt es noch einen Bereich, in dem Deutschland im Mauerwerksbau führend ist?

Ansgar Schulz: Schon seit längerer Zeit verfolgen wir, dass in Deutschland große Mengen an Ziegeln wiederverwendet werden. Hier wirft niemand die Steine weg oder macht daraus Ziegelsplitt für Tennisplätze. Das Kunstmuseum in Ravensburg von Arno Lederer und Jórunn Ragnarsdóttir war dafür in gewisser Weise ein Vorreiter. Andere Architekturbüros – beispielsweise AFF Architekten mit der Spore Initiative in Berlin – sind ihnen gefolgt. Aus gutem Grund: Wenn ein Ziegel erst einmal 70 oder 80 Jahre alt ist und leicht verwittert, dann entsteht eine Patina, die mit neu gebrannten Ziegeln niemals erreichen lässt. 

Ansgar und Benedikt Schulz haben 2025 die Neuausgabe des Atlas Mauerwerk von Detail herausgegeben. © Valentina Seidel

Ansgar und Benedikt Schulz leiten seit 1992 das Büro Schulz und Schulz Architekten in Leipzig. Gemeinsam lehrten sie am KIT Karlsruhe und übernahmen 2010 die Professur Baukonstruktion an der TU Dortmund. Seit 2018 haben sie die Professur für Entwerfen und Konstruieren an der Technischen Universität Dresden inne. Der im November 2025 erschienene Atlas Naturstein ist bereits das dritte Buch, das Ansgar und Benedikt Schulz in der Edition Detail veröffentlichen. Zuvor erschien 2015 das Lehrbuch „Perfect Scale“; 2019 folgte der Atlas Naturstein. 
 
Mehr dazu in der Neuerscheinung Atlas Mauerwerk. Blick ins Buch: Hier blättern


Atlas Mauerwerk. Grundlagen – Konstruktionen – Beispiele 
Autor: Prof. Benedikt Schulz, Prof. Ansgar Schulz (Hg.) 
Sprachen: Deutsch


Erscheinungsdatum: November, 2025 
Verlag: Edition Detail, München 2025 
Jetzt bestellen

https://detail-cdn.s3.eu-central-1.amazonaws.com/media/catalog/product/0/1/01-interview-schulz-und-schulz-mauerwerk-atlas.jpg?width=437&height=582&store=de_de&image-type=image https://detail-cdn.s3.eu-central-1.amazonaws.com/media/catalog/product/0/2/02-interview-schulz-und-schulz-mauerwerk-atlas.jpg?width=437&height=582&store=de_de&image-type=image https://detail-cdn.s3.eu-central-1.amazonaws.com/media/catalog/product/0/3/03-interview-schulz-und-schulz-mauerwerk-atlas.jpg?width=437&height=582&store=de_de&image-type=image https://detail-cdn.s3.eu-central-1.amazonaws.com/media/catalog/product/0/4/04-interview-schulz-und-schulz-mauerwerk-atlas.jpg?width=437&height=582&store=de_de&image-type=image https://detail-cdn.s3.eu-central-1.amazonaws.com/media/catalog/product/0/5/05-interview-schulz-und-schulz-mauerwerk-atlas.jpg?width=437&height=582&store=de_de&image-type=image
Copyright © 2024 DETAIL. Alle Rechte vorbehalten.