Die Regeln des Bauens ändern

Andrea Klinge, © Philipp Zwanzig

Andrea Klinge bezeichnet sich selbst als „forschende Architektin“. Sie war an mehreren EU-weiten Forschungsprojekten beteiligt, lehrt in Basel und Karlsruhe und leitet gemeinsam mit ihrem Mann Eike eine Arbeitsgruppe für die Circular Economy Roadmap des Deutschen Instituts für Normung (DIN). Wichtige Grundlagenarbeit für die Kreislaufwirtschaft also, von der sie im Interview berichtet.

Das Gespräch ist Teil einer Interviewreihe, die in der Publikation „Zirkuläres Bauen in der Praxis“ der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart erschienen ist. In den kommenden Wochen veröffentlichen wir weitere Interviews aus der Reihe.

Du hast 2013 angefangen, bei ZRS Architekten Ingenieure eine Forschungsabteilung aufzubauen, die du heute auch leitest. Seit Januar 2022 hast du in der Schweiz eine Professur für Zirkuläres Bauen. Würdest du dich als Forscherin oder als Architektin bezeichnen? 
Ich würde sagen, ich arbeite als forschende Architektin. Der Schwerpunkt liegt aber schon in der Forschung, zumindest waren dadurch die vergangenen zehn Jahre stark geprägt. Viele Forschungsprojekte haben jedoch einen engen Bezug zur Praxis.

Wie kann man sich eine Forschungsabteilung in einem Architekturbüro vorstellen?
Bei uns wurde immer schon geforscht. Das ist auf Christof Ziegert zurückzuführen, der seit jeher an Lehm forscht und auch unser Baustofflabor aufgebaut hat, das so ein bisschen unser Herz ist. Irgendwann kamen dann die EU-Forschungsvorhaben. Bei einer Forschungsarbeit zum Gesunden Bauen haben wir mit Naturbaustoffen gearbeitet und Lehmputze modifiziert. Da haben wir im Labor Messungen gemacht und Untersuchungen durchgeführt, um die Feuchtesorption der Baustoffe zu bestimmen. An das Forschungsvorhaben RE4 sind wir eher pragmatisch herangegangen. Wir haben im Labor gearbeitet, uns aber auch im Keller eine Werkstatt eingerichtet, in der wir nach Lösungen gesucht haben, um Altholz in den Kreislauf zurückzuführen. Die Ergebnisse haben wir immer versucht, in die Planungsteams zu tragen.

Im Rahmen des EU-Forschungsprojekts RE 4 haben sich ZRS Architekten Ingenieure mit den Stoffkreisläufen von Bauholz und den Nutzungsmöglichkeiten von Altholz beim Bauen beschäftigt. © ZRS Architekten Ingenieure

Das RE4 ist ein europäisches Forschungsvorhaben, das sehr erfolgreich war und auch prämiert wurde. Was ist eure wichtigste Erkenntnis?
Die wichtigste Botschaft ist: Es geht. Wir können kreislaufgerecht planen und bauen.

An was genau habt ihr geforscht?   
Wir haben mit zwölf Partnerinnen in Teams zu verschiedenen Baustoffen geforscht: RC-Beton, Altholz und Lehm. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass sich Holz sehr viel besser für kreislaufgerechtes Bauen eignet als Stahlbeton. Im Vergleich zu Stahlbeton handelt es sich um eine leichte Ressource, die CO2 speichert und trocken gefügt und dadurch zerstörungsfrei rückgebaut werden kann. Das ist für kreislaufgerechtes Bauen von großer Bedeutung. Lehm wiederum ist intrinsisch zirkulär, gilt aber immer noch als Arme-Leute-Baustoff und wird total unterschätzt. Außerdem handelt es sich um einen Baustoff, der relativ wenig CO2 generiert und replastifiziert werden kann. Dadurch ist Lehm unendlich wiederverwendbar.

Du hast eine Ausbildung zur Tischlerin. Wie wichtig ist Praxiswissen für zirkuläres Bauen?
Ich glaube, dass es in der Architektur grundsätzlich nicht schlecht ist, wenn man etwas von Handwerk versteht. Besonders bei der Kreislauffähigkeit hat man damit nochmals einen anderen Hebel: Wenn ich wirklich verstehe, wie Sachen gefügt werden und wie man sie zurückbauen kann, kann man das Ganze sehr viel einfacher umsetzen.

ZRS beschäftigt sich schon lange mit zirkulärem Bauen. Was waren die ersten Projekte? 
Die ersten beiden Projekte in Richtung Kreislauffähigkeit sind bereits vor meiner Zeit bei ZRS Architekten entstanden. Zum einen wurde in Kolbermoor eine Torfremise mit einer reversiblen Konstruktion aus dem Jahr 1810 zurückgebaut und an einem anderen Standort wieder aufgebaut. Zum anderen wurde in der Wüste in Abu-Dhabi eine Lehmsteinmauerwerkskonstruktion saniert, schadhafte Bauteile zurückgebaut und all die Lehmbaustoffe später wieder in das Gebäude eingebracht.

2013 wurde eine vom Abbruch bedrohte historische Torfremise im oberbayerischen Kolbermoor rückgebaut, die Bestandteile des Holztragwerks repariert und nach Plänen von ZRS Architekten in Schechen wieder errichtet. © ZRS Architekten Ingenieure

Wo steht kreislaufgerechtes Bauen aktuell und wie schätzt du die Perspektive ein?
Ich glaube, wir stehen noch ziemlich am Anfang. Wir haben zwar schon ein enormes Wissen, aber das müssen wir jetzt in den Sektor und in die Umsetzung bringen. Inzwischen gehen immer mehr Büros aus der Deckung und sagen, dass wir so nicht weitermachen können. Allerdings stoßen die meisten an Grenzen, weil noch immer viel zu häufig Investitionskosten als maßgebliches Kriterium angesetzt werden.

Du meinst, dass die Lebenszykluskosten außer Acht gelassen werden?
Genau. Das ist total schwierig und oftmals das Killerargument. Deshalb versuchen wir klarzumachen, dass sich über eine Lebenszykluskostenbetrachtung andere Ergebnisse ergeben und, dass am Ende der Lebensdauer kein Abfall oder im schlimmsten Fall Sondermüll zurückbleibt, sondern eine Ressource.

Gemeinsam mit deinem Mann, Eike Roswag-Klinge, leitest du die Arbeitsgruppe zur Circular-Economy-Normungsroadmap der DIN. Wie kam es dazu?
Die Normung ist nicht auf Kreislaufgerechtigkeit ausgelegt. Das Thema stand lange nicht auf der Agenda. Im Oktober 2021 hat die DIN aber unterschiedliche Bereiche wie Kunststoffe, Batterien, Textilien oder Digitalisierung aufgerufen, um zu überlegen, wie die Circular Economy zukünftig berücksichtigt werden kann. Als Eike und ich uns dazu entschlossen haben, die Circular Economy Roadmap zu übernehmen, hat das dazu geführt, dass sich nicht wie sonst extrem viele Leute aus den Verbänden engagiert haben, sondern aus der Wissenschaft. Knapp 100 Leute waren das. Das war Wahnsinn und total konstruktiv. Oftmals ist die Normung ja von der Industrie dominiert. Die schicken ihre Leute in die Ausschüsse und die schreiben dann die Normungen. Wir haben aber die Hoffnung, dass es jetzt anders läuft.

Die Torfremise in Kolbermoor vor dem Rückbau, © Emmanuel Heringer/ZRS Architekten Ingenieure
Wiederverwendet wurde das Holzskelett in einem neu errichteten Wohn- und Werkstattgebäude. © Emmanuel Heringer/ZRS Architekten Ingenieure

Wie seid ihr bei der Erstellung der Normungsroadmap vorgegangen?
Zunächst haben wir eine Roadmap gemacht, mit der wir Potenziale identifizieren. Wir haben uns den Bereich Bauwerke und Kommunen vorgenommen und vier Felder identifiziert, in die wir das enorm große Thema herunterbrechen: Material, Gebäude, Kommunen sowie Methoden und Tools. Daraufhin haben wir eine Normenrecherche gestartet, bei der wir geschaut haben, was es schon in Richtung Kreislauffähigkeit gibt und Normen gelistet, bei denen der Aspekt Kreislauffähigkeit berücksichtigt werden muss. 

Welche waren das?
Wenn wir Materialien weiter- oder wiederverwenden wollen, dann müssen sie in Zukunft schadstofffrei sein. Ohnehin muss die Wiederverwendbarkeit von Produkten beachtet werden. Ein weiterer Punkt ist der, dass wir Rezyklatanteile definieren müssen. Jedoch ist Kreislaufwirtschaft nicht gleichzusetzen mit Recycling, auch wenn das oft so kommuniziert wird. Recycling befindet sich ganz am Ende der Kette, wenn eine Bauteilkomponente ihr Lebensende erreicht hat. Aber vorher müssen wir so konstruieren, dass Gebäude 500 Jahre halten. Wenn sie doch weichen müssen, dann sollen sie zurückgebaut und woanders wieder aufgebaut werden. 

Was wünscht du dir für die Zukunft, damit zirkuläres Bauen zum Standard wird?
Ich glaube, dass wir in der Branche viel mutiger werden und unsere Verantwortung wahrnehmen müssen. Als Architektinnen müssen wir die Bauherren entsprechend beraten. Aber wenn wir sie nicht überzeugen können, dann müssen wir auch den Mut haben zu sagen, dass das dann nix wird. Das bedeutet aber auch, dass die ganze Branche dahinterstehen und es ebenfalls sein lassen muss. Denn das ist ja immer die Crux, dass man Sorge hat, dass es Mitbewerberinnen machen werden.

Andrea Klinge arbeitet seit 2013 bei ZRS Architekten, wo sie die Forschungsabteilung aufgebaut hat. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf kreislaufgerechten Low-Tech-Bauweisen und dem Einsatz natürlicher Baustoffe. Derzeit ist sie Teil der Arbeitsgruppenleitung für die Circular Economy Roadmap „Bauwerke und Kommunen“ des DIN. 2021 wurde Andrea Klinge als Professorin für Zirkuläres Bauen an die Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel berufen. Seit 2023 lehrt sie als Professorin für Konstruieren und Entwerfen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).


Das komplette Interview wurde zuerst veröffentlicht in der Publikation „Zirkuläres Bauen in der Praxis“
Verfasser/-innen:
Markus Weismann, asp Architekten
Marcus Herget, Marcus Herget Beratungsunternehmen
Nadine Funck, asp Architekten
Raphael Dietz, asp Architekten


Auftraggeberin: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart
Die Publikation untersucht, inwieweit zirkuläres Bauen bereits am Markt angekommen ist, welche Potenziale sich dadurch ergeben und wie diese besser ausgeschöpft werden können. Die 15 Experteninterviews zeigen dabei die unterschiedlichen Perspektiven aus Wirtschaft, Politik, Architektur, Wissenschaft und Bauherrinnen auf.
Download: Zirkuläres Bauen in der Praxis 

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